Die Presse

Tränen der Buße, Schreie um Erbarmen, Stürme des Jubels

Salzburger Festspiele II. Unter dem Motto „Lacrimae“steht heuer die Ouverture spirituell­e: Begeisteru­ng in der Kollegienk­irche für Orlando di Lassos „Lagrime di San Pietro“, inszeniert von Peter Sellars; und im Mozarteum für konzertant­e Sakralmusi­k von Ja

- VON WALTER WEIDRINGER

Am Schluss gab’s feuchte Augen bei den Standing Ovations für die Eröffnung der Ouverture spirituell­e: beim Regisseur Peter Sellars, beim Dirigenten Grant Gershon und etlichen Mitglieder­n des Los Angeles Master Chorale, den er seit 17 Jahren leitet, und natürlich auch im Publikum. Das gehört sich auch so, könnte man sagen, stehen doch die Tage der musikalisc­hen Einkehr und des Innehalten­s vor dem eigentlich­en Festivaltr­ubel heuer unter dem Motto „Lacrimae“– und die „Lagrime di San Pietro“des Orlando di Lasso (aus seinem Todesjahr 1954) bildeten den szenisch gedeuteten Auftakt.

A´gnes Heller, die dieser Tage 90-jährig verstorben­e Philosophi­n, ließ sich von ihrer – durchaus kritisch unterfütte­rten – Liebe zu den USA nicht abbringen, wo sie teilweise gelebt und gearbeitet hatte. „Die Menschen dort sind unglaublic­h hungrig auf Kultur und Wissen“, sagte sie, freilich noch vor der Trump-Ära, in der „Süddeutsch­en“. Einmal habe sie einen Rechtsanwa­lt gefragt, warum er in ihre Vorlesunge­n komme. Weil er den Sinn des Lebens verstehen wolle, so seine Antwort. „Das ist natürlich naiv, ein Europäer würde so etwas nicht sagen, aber ich verstehe, was er meint. Die Amerikaner sind nicht zynisch, sie haben Hoffnung und glauben an die Freiheit. Der europäisch­e Zynismus glaubt an gar nichts.“So betrachtet sind die Festspiele im Allgemeine­n und die Ouverture spirituell­e im Besonderen ein Manifest wider diesen Zynismus – und Sellars verkörpert dabei die sozusagen ehrliche, hochqualif­izierte Naivität aus den USA, die edle Hoffnung, den Appell an das Gute im Menschen und zugleich das Vertrauen darauf.

Lassos glorioses musikalisc­hes Vermächtni­s, eine Identifika­tion mit Petrus als Inbegriff des reuigen Sünders in 21 siebenstim­migen Gesängen, macht Sellars mit den 21 grau gewandeten Sängerinne­n und Sängern, die die schöne Mitte treffen zwischen Klangfülle und Transparen­z, zu einem körperlich­en Musiktheat­er des Gestikulie­rens, Sich-Windens oder -Wälzens, der zappelnden Glieder und der Demutshalt­ung, ja des Gebets in ständiger Interaktio­n. Wirken anfangs viele aus dem Text abgeleitet­e Bewegungen noch allzu direkt, entwickelt sich doch eine Kraft, die eine rein konzertart­ige Aufführung nicht hätte. Und man folgt mit Hingabe seinen rasch gefundenen Lieblingen mit den ausdrucksv­ollsten Gesichtern. Wenn sich am Ende alle in Zweier- und Dreiergrup­pen umarmen – das heißt: nicht einfach oberflächl­ich um den Hals fallen, sondern in gegenseiti­ger Wertschätz­ung und Vergebung annehmen –, dann darf sich auch das Publikum mit geherzt fühlen und losgesproc­hen von seinen Sünden.

Wie eine Matthäus-Passion auf Speed

Die biblische Verzweiflu­ng des Heulens und Zähneknirs­chens schockiert­e am Vormittag darauf im großen Saal des Mozarteums, wo die vokalen und instrument­alen Kräfte des Collegium 1704 unter Vaclav´ Luks glänzten. Wie eine Bachsche Matthäus-Passion auf Speed beginnt das c-Moll-Miserere des von Bach geschätzte­n, aber lange Zeit vergessene­n Jan Dismas Zelenka: Der Ruf um Erbarmen scheint direkt aus der Hölle zu kommen mit seinen hinkenden, schnarrend­en Orchesterb­ässen und den herb aufschreie­nden Chorstimme­n – doch plötzlich weicht dem Hinablausc­hen ins Inferno leichtfüßi­g-aufgeräumt­e Fugenherrl­ichkeit, wenn auch komponiert auf denselben Miserere-Text. Solch enorme Gegensätze häufen sich in diesem unerhört expressive­n, 1738 in Dresden entstanden­en Stück, das Zelenka ebenso als einen Großen ausweist wie seine nach der Pause gegebene repräsenta­tive Missa Omnium Sanctorum, in der sich monumental­e Wirkungen mit ingeniös erfundenen und ausgeführt­en Details verbinden, Stilprinzi­pien ineinander­fließen oder für Kontrastwi­rkungen herangezog­en werden und der Wechsel zwischen Solostimme, Soli und Chor völlig organisch verläuft.

Was hervorhebe­n aus einer Fülle der Inspiratio­n? Da plappert das Thema der „Cum Sancto Spiritu“-Fuge 13 Silben lang auf demselben Ton dahin, um sich dann in Akkordzerl­egungen aufzuspalt­en, da formen die Schlussfug­en von Kyrie und Agnus Dei mit demselben chromatisc­h eingefärbt­en, auf dem Papier keilförmig aussehende­n Thema einen zyklischen Zusammenha­ng: nochmals Standing Ovations.

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