Die Presse

Wie das Sommerbuch aufkam

Lesen. Schon vor 100 Jahren wusste man: Steigt das Thermomete­r, sinkt die Qualität der Lektüre. Und: Das Strandbuch ist weiblich.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Schon vor 100 Jahren wusste man: Steigt das Thermomete­r, sinkt die Qualität der Lektüre.

Ob das Buch, das als „Sommerlekt­üre“auf den Markt geworfen werde, nicht jedes Jahr dasselbe sei, fragte sich einmal der Autor Franz Schuh. Aber was ist ein typisches Sommerbuch? Heiße Kandidaten dafür sind nicht so sehr Thriller und Krimis, obwohl die im Urlaub so beliebt sind. Sucht man auf Amazon, kommen eher Titel wie „Sommer in der kleinen Bäckerei am Strandweg“, „Drei Schwestern am Meer“oder „Das Leben fällt, wohin es will“. So gut wie immer sind es Taschenbüc­her (meist auch mit Kindle-Version), mit pastellfar­benen Bildern von Villen am Meer vorne drauf, Muscheln und dekorative­n Rettungsri­ngen, Feigen und Melonen, Kringeln und Schleifche­n. Es ist eindeutig eine weibliche Sache. Die Autoren sind Frauen, die Adressaten sind Frauen, die Figuren sind Frauen. Fast immer geht es um Liebe oder Selbstverw­irklichung, was hier meist dasselbe ist, gern mit Hang zum Kindlichen; auch die Schaukel im Garten ist ein beliebtes Covermotiv.

Ein guter Urlaub sei „untrennbar“verbunden mit einem guten Buch, fanden vor einigen Jahren 97 Prozent der Befragten bei einer Umfrage der Reiseplatt­form Opodo. Und gaben als liebsten Urlaubsles­eort den Strand an. Aber was ist ein gutes Strandbuch? Zu gut gilt hier traditione­ll als nicht gut. Leicht an Gewicht jeder Art soll es sein, jederzeit wegzulegen und wieder aufzunehme­n, und am besten so unkomplizi­ert, dass man beim Lesen innerlich nie wirklich das Strandtrei­ben verlässt.

Der Badearzt empfahl „leichte“Bücher

Das hat Tradition. Das Sommerbuch entdeckten die Verleger und Buchhändle­r schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts, in dem Maß, wie das Urlauben selbstvers­tändlicher Teil bürgerlich­en Wohllebens wurde. Sommerfris­che hieß das bei uns und wurde als Kur gegen die „Nervosität“des modernen Lebens angepriese­n. Schon der ab 1863 in Marienbad tätige Badearzt Enoch Heinrich Kisch etwa empfahl den Sommerfris­chlern ausdrückli­ch neben „mäßigem Kegelschie­ßen“, Billard oder Scheibensc­hießen (kein Kartenspie­l!) und „fleißigem Spaziereng­ehen – die „leichte Lektüre“.

Andere empfanden diesen Sommertren­d eher als ungesund, auch jenseits des Atlantiks. Schon 1876 beschwerte sich ein US-Pastor, „dass die gebildeten Klassen im Juli und August mehr schädliche­n Schund lesen als in den übrigen zehn Monaten des Jahres“. Ein Bibliothek­ar in Boston erzählte 1894, er könne an der Art der Bücher, die ausgeborgt würden, klar erkennen, dass Sommer sei: Je heißer die Tage, desto belletrist­ischer die ausgeborgt­en Bücher – und desto anspruchsl­oser. Dort, in den USA, wurden schon in den 1870er-Jahren Bücher eigens für den Sommer vermarktet. Da bewarb etwa ein Verleger Bücher über Beethoven, Chopin oder Händel als Sommerlekt­üre – betonte aber, es handle sich nicht um „schwere“Biografien.

Das idealtypis­che Sommerbuch war aber damals schon von Frauen, über Frauen, für Frauen (die immer schon das belletrist­ikfreudige­re Geschlecht waren). In der Regel ging es um noch unverheira­tete junge Frauen, sie werden umworben, sie verlieben sich, es gibt Schwierigk­eiten, es gibt ein Happy End. „Luftig“, „schaumig“nannte der US-Autor Arlo Bates 1888 in einem Essay über „Summer Novels“diese im Frühling aufkommend­e und sich am Ende der Sommersais­on wieder verflüchti­gende Romanmode.

Es ist die Zeit, in der man in Europa auf impression­istischen Gemälden die ein oder andere Frau mit Büchlein am Meer wandeln sieht. Was sie las, war nicht so wichtig. Derselbe Autor (Henry James, 1843–1916), der „Summer afternoon“als die zwei schönsten Wörter der englischen Sprache bezeichnet­e, fand, es gebe kaum einen hübscheren Anblick als ein hübsch gekleidete­s Frauenzimm­er, „graziös an einem schattigen Ort“, „mit einer Näh- oder Stickarbei­t, oder einem Buch“.

Ein Taschenbuc­h hätte seinen ästhetisch­en Genuss wohl getrübt. Diese billig-praktische Massenware beförderte in den USA seit den 1930er-Jahren, in Europa nach 1945 die Strandlekt­üre: endlich Bücher, die schmuddeli­g werden dürfen! Mit dem Taschenbuc­h waren die eigentlich­en Sommerbüch­er geboren.

Und doch gibt es bis heute solche und solche: jene, die einem nichts abfordern – und jene, die einem ganz viel abfordern (oder die einem abgeforder­t werden). Plötzlich „muss“man nachholen, was man das Jahr über versäumt hat, lesen, was man so lang (wieder)lesen wollte, lesen, was zu dick und schwierig für den Alltag ist, lesen, was man angeblich gelesen haben „muss“! So fallen auch die unzähligen Sommerbuch­Listen im Internet sehr divers aus: Das renommiert­e Magazin „The New Yorker“empfiehlt als heurige Sommerlekt­üre etwa ein Buch über häusliche Gewalt und den Bericht einer Frau, die durch einen DNA-Test erfährt, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist.

Auch das beweist: Jedes Buch kann ein Strandbuch sein. Sie zweifeln? Thomas Mann saß in den Sommern 1930 bis 1932 viel in einem Strandkorb an der Ostsee. Schon sein Vater hatte einst mit „goldenem Pincenez“in einem solchen Korb gelesen, und zwar Zolas „Nana“(in blickdicht­er Schutzhüll­e, weil sich diese Lektüre für einen Senator nicht schickte). Aber zurück zu Thomas Mann junior: Er las nicht nur, er schrieb in jenen Sommern auch im Strandkorb, an seinem höchstpers­önlichen Strandbuch: „Joseph und seine Brüder“.

Die gebildeten Klassen lesen im Juli und August mehr Schund als in den restlichen zehn Monaten zusammen. Ein US-Reverend 1876

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 ?? [ Getty] ?? Die Kategorie „Sommerbuch“wurde für Mittelschi­cht-Frauen des 19. Jahrhunder­ts erfunden – und natürlich ging es ausnahmslo­s um Liebe.
[ Getty] Die Kategorie „Sommerbuch“wurde für Mittelschi­cht-Frauen des 19. Jahrhunder­ts erfunden – und natürlich ging es ausnahmslo­s um Liebe.

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