Wie das Sommerbuch aufkam
Lesen. Schon vor 100 Jahren wusste man: Steigt das Thermometer, sinkt die Qualität der Lektüre. Und: Das Strandbuch ist weiblich.
Schon vor 100 Jahren wusste man: Steigt das Thermometer, sinkt die Qualität der Lektüre.
Ob das Buch, das als „Sommerlektüre“auf den Markt geworfen werde, nicht jedes Jahr dasselbe sei, fragte sich einmal der Autor Franz Schuh. Aber was ist ein typisches Sommerbuch? Heiße Kandidaten dafür sind nicht so sehr Thriller und Krimis, obwohl die im Urlaub so beliebt sind. Sucht man auf Amazon, kommen eher Titel wie „Sommer in der kleinen Bäckerei am Strandweg“, „Drei Schwestern am Meer“oder „Das Leben fällt, wohin es will“. So gut wie immer sind es Taschenbücher (meist auch mit Kindle-Version), mit pastellfarbenen Bildern von Villen am Meer vorne drauf, Muscheln und dekorativen Rettungsringen, Feigen und Melonen, Kringeln und Schleifchen. Es ist eindeutig eine weibliche Sache. Die Autoren sind Frauen, die Adressaten sind Frauen, die Figuren sind Frauen. Fast immer geht es um Liebe oder Selbstverwirklichung, was hier meist dasselbe ist, gern mit Hang zum Kindlichen; auch die Schaukel im Garten ist ein beliebtes Covermotiv.
Ein guter Urlaub sei „untrennbar“verbunden mit einem guten Buch, fanden vor einigen Jahren 97 Prozent der Befragten bei einer Umfrage der Reiseplattform Opodo. Und gaben als liebsten Urlaubsleseort den Strand an. Aber was ist ein gutes Strandbuch? Zu gut gilt hier traditionell als nicht gut. Leicht an Gewicht jeder Art soll es sein, jederzeit wegzulegen und wieder aufzunehmen, und am besten so unkompliziert, dass man beim Lesen innerlich nie wirklich das Strandtreiben verlässt.
Der Badearzt empfahl „leichte“Bücher
Das hat Tradition. Das Sommerbuch entdeckten die Verleger und Buchhändler schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem Maß, wie das Urlauben selbstverständlicher Teil bürgerlichen Wohllebens wurde. Sommerfrische hieß das bei uns und wurde als Kur gegen die „Nervosität“des modernen Lebens angepriesen. Schon der ab 1863 in Marienbad tätige Badearzt Enoch Heinrich Kisch etwa empfahl den Sommerfrischlern ausdrücklich neben „mäßigem Kegelschießen“, Billard oder Scheibenschießen (kein Kartenspiel!) und „fleißigem Spazierengehen – die „leichte Lektüre“.
Andere empfanden diesen Sommertrend eher als ungesund, auch jenseits des Atlantiks. Schon 1876 beschwerte sich ein US-Pastor, „dass die gebildeten Klassen im Juli und August mehr schädlichen Schund lesen als in den übrigen zehn Monaten des Jahres“. Ein Bibliothekar in Boston erzählte 1894, er könne an der Art der Bücher, die ausgeborgt würden, klar erkennen, dass Sommer sei: Je heißer die Tage, desto belletristischer die ausgeborgten Bücher – und desto anspruchsloser. Dort, in den USA, wurden schon in den 1870er-Jahren Bücher eigens für den Sommer vermarktet. Da bewarb etwa ein Verleger Bücher über Beethoven, Chopin oder Händel als Sommerlektüre – betonte aber, es handle sich nicht um „schwere“Biografien.
Das idealtypische Sommerbuch war aber damals schon von Frauen, über Frauen, für Frauen (die immer schon das belletristikfreudigere Geschlecht waren). In der Regel ging es um noch unverheiratete junge Frauen, sie werden umworben, sie verlieben sich, es gibt Schwierigkeiten, es gibt ein Happy End. „Luftig“, „schaumig“nannte der US-Autor Arlo Bates 1888 in einem Essay über „Summer Novels“diese im Frühling aufkommende und sich am Ende der Sommersaison wieder verflüchtigende Romanmode.
Es ist die Zeit, in der man in Europa auf impressionistischen Gemälden die ein oder andere Frau mit Büchlein am Meer wandeln sieht. Was sie las, war nicht so wichtig. Derselbe Autor (Henry James, 1843–1916), der „Summer afternoon“als die zwei schönsten Wörter der englischen Sprache bezeichnete, fand, es gebe kaum einen hübscheren Anblick als ein hübsch gekleidetes Frauenzimmer, „graziös an einem schattigen Ort“, „mit einer Näh- oder Stickarbeit, oder einem Buch“.
Ein Taschenbuch hätte seinen ästhetischen Genuss wohl getrübt. Diese billig-praktische Massenware beförderte in den USA seit den 1930er-Jahren, in Europa nach 1945 die Strandlektüre: endlich Bücher, die schmuddelig werden dürfen! Mit dem Taschenbuch waren die eigentlichen Sommerbücher geboren.
Und doch gibt es bis heute solche und solche: jene, die einem nichts abfordern – und jene, die einem ganz viel abfordern (oder die einem abgefordert werden). Plötzlich „muss“man nachholen, was man das Jahr über versäumt hat, lesen, was man so lang (wieder)lesen wollte, lesen, was zu dick und schwierig für den Alltag ist, lesen, was man angeblich gelesen haben „muss“! So fallen auch die unzähligen SommerbuchListen im Internet sehr divers aus: Das renommierte Magazin „The New Yorker“empfiehlt als heurige Sommerlektüre etwa ein Buch über häusliche Gewalt und den Bericht einer Frau, die durch einen DNA-Test erfährt, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist.
Auch das beweist: Jedes Buch kann ein Strandbuch sein. Sie zweifeln? Thomas Mann saß in den Sommern 1930 bis 1932 viel in einem Strandkorb an der Ostsee. Schon sein Vater hatte einst mit „goldenem Pincenez“in einem solchen Korb gelesen, und zwar Zolas „Nana“(in blickdichter Schutzhülle, weil sich diese Lektüre für einen Senator nicht schickte). Aber zurück zu Thomas Mann junior: Er las nicht nur, er schrieb in jenen Sommern auch im Strandkorb, an seinem höchstpersönlichen Strandbuch: „Joseph und seine Brüder“.
Die gebildeten Klassen lesen im Juli und August mehr Schund als in den restlichen zehn Monaten zusammen. Ein US-Reverend 1876