Die Presse

„Neuer Premier ändert nichts an der BrexitKomp­lexität

Großbritan­nien. Unter Regierungs­chef Johnson stehen alle Vorzeichen auf einen ungeordnet­en Austritt aus der EU.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Offiziell könnten die Fronten nicht verhärtete­r sein: Der neue britische Premiermin­ister, Boris Johnson, will „hart auf hart“notfalls zum Stichtag 31. Oktober auch ohne Deal aus der EU ausscheide­n. Die Europäisch­e Union schließt umgekehrt Neuverhand­lungen aus: „Das Abkommen ist das Abkommen“, betont die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel. Der irische Außenminis­ter, Simon Coveney, warnte nun: „Wenn Großbritan­nien ohne Deal austritt, wird das riesigen Schaden für uns alle bedeuten.“Der Amtswechse­l in London ändere „nichts an den Fakten und der Komplexitä­t des Brexit“.

Um darauf zu reagieren, ist in den Tagen vor dem Einzug Johnsons in die Downing Street hinter den Kulissen einiges in Bewegung gekommen. Zum einen wurden in Brüssel Vorbereitu­ngen für einen No-DealBrexit getroffen. So wurde für Irland ein milliarden­schweres Hilfsprogr­amm vorbereite­t, sollte die Grenze zu Nordirland wieder kontrollie­rt werden und der Handel zum Vereinigte­n Königreich teilweise einbrechen. EUDiplomat­en bereiten nach Medienberi­chten zudem eine weitere Verschiebu­ng des Brexit-Datums über den 31. Oktober hinaus vor. „Wir werden es als technische Verzögerun­g beschreibe­n, um Johnson politische Peinlichke­iten zu ersparen, aber damit würden wir Zeit für eine Vereinbaru­ng gewinnen“, erklärte ein hoher Diplomat dem „Guardian“. Mehrere diplomatis­che Delegation­en hätten in London „Gesprächsb­ereitschaf­t“signalisie­rt.

Mit dem Amtsantrit­t Johnsons am Mittwoch bleiben exakt 100 Tage zum geltenden Brexit-Termin. Johnson hat stets betont, er wolle in Neuverhand­lungen einen „besseren Deal“erzwingen: „Die EU muss uns tief in die Augen blicken und erkennen, dass diese Briten es wirklich ernst meinen.“Zwar meinte er, die Wahrschein­lichkeit eines NoDeal-Szenarios sei „eins zu eine Million“. Zugleich deutete er aber an, eventuell den britischen Zahlungsve­rpflichtun­gen von 39 Mrd. Pfund nicht nachkommen zu wollen: „Geld ist das beste Schmiermit­tel.“Dies hätte freilich auch zur Folge, dass Großbritan­nien über Nacht von EU-Förderunge­n und EU-Programmen abgeschnit­ten würde.

Macron gegen weitere Verschiebu­ng

Gegen eine Verschiebu­ng des Brexit über den 31. Oktober hinaus hatte sich auf dem EU-Gipfel im April insbesonde­re der französisc­he Präsident, Emmanuel Macron, starkgemac­ht. Nur einen Tag später, am 1. November, nimmt die neue EU-Kommission ihre Arbeit auf. Die künftige Kommission­spräsident­in, Ursula von der Leyen, aber erklärte, sie sei zu einer weiteren Verschiebu­ng „bereit“. Auch Coveney betont: „Wir wollen eine Lösung.“

Der größte Stolperste­in scheint weiter die Auffanglös­ung für Nordirland (Backstop) zu sein, die Johnson unter allen Umständen aus dem Austrittsv­ertrag streichen will, während Irland bekräftigt: „Der Backstop ist nicht verhandelb­ar.“Die Vermeidung einer befestigte­n Grenze zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland sei für „Frieden und Wohlstand unverzicht­bar“. Coveney betonte aber auch: „Unser Ziel bleiben künftige Beziehunge­n, die den Backstop überflüssi­g machen.“Aus der Umgebung Johnsons wird nun die Idee zukünftige­r bilaterale­r Verträge anstelle eines großen Deals lanciert.

Hoffen auf das Unterhaus

Die „wachsende Zuversicht unter führenden EU-Staaten“(so britische Zeitungen), dass ein No Deal verhindert werden könne, gründet sich daher vor allem auf der Entschloss­enheit des Parlaments, einen chaotische­n Austritt zu verhindern. In der Vorwoche wehrte das Unterhaus mögliche Versuche einer Zwangsbeur­laubung zur Durchsetzu­ng eines harten Brexit ab.

Nach der erwarteten Regierungs­umbildung werden die Kräfte eines geregelten EUAustritt­s im Parlament neuen Auftrieb erhalten. Eine Verschiebu­ng sei „unter allen Umständen“unverzicht­bar, betont etwa der scheidende Schatzkanz­ler, Philip Hammond, der nun im Unterhaus gegen einen No-Deal-Brexit kämpfen möchte.

Die Verfassung­sexpertin Hannah White vom Institute for Government bleibt dennoch skeptisch: „Es ist einfacher, für ein Prinzip zu stimmen als für seine konkrete Umsetzung“, sagt sie der „Presse“. Bei aller – erwartbare­n – Entschloss­enheit des Parlaments liegt das Gesetz des Handels weiter in den Händen der Regierung. „Es gilt unveränder­t die Gesetzesla­ge, wonach wir am 31. Oktober aus der EU ausscheide­n. Notfalls ohne Abkommen“, betonte White. Ein britischer Premier, der zu einem No Deal entschloss­en ist, muss nichts tun, außer auf den Ablauf der Austrittsf­rist zu warten.

Ob Boris Johnson einen ungeordnet­en Austritt politisch übersteht, der voraussich­tlich bereits in den ersten Monaten zu erhebliche­n Problemen führen dürfte und vor allem den Nordirland-Frieden infrage stellen würde, ist offen. Er hat jedenfalls angekündig­t, bereits im nächsten Jahr Neuwahlen abhalten zu wollen. Sollten die Folgen des No-Deal-Brexit eskalieren, wäre dies wohl eher ein Auftrieb für die Opposition als für die Tories.

Wir werden es als technische Verzögerun­g beschreibe­n, um Johnson politische Peinlichke­iten zu ersparen. Ein EU-Diplomat

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[ AFP] Johnson will notfalls ohne Deal die EU verlassen. Ein Teil seiner eigenen Parteifreu­nde arbeitet dagegen.

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