„Mein Job ist, den Brexit zu stoppen“
Interview. Der Brexit hat seiner Unabhängigkeitsbewegung Auftrieb verliehen, sagt der schottische EU-Abgeordnete Alyn Smith. Doch vorerst gelte es, den britischen EU-Austritt zu verhindern.
Im sechzehnten Jahr seiner Laufbahn als Europaabgeordneter steht Alyn Smith vor einer paradoxen Situation: Er sitzt als Brite in einem Parlament, dem er eigentlich nicht mehr angehören sollte. Denn der Brexit hätte schon Ende März stattfinden sollen, und somit hätte es keine Europawahl im Vereinigten Königreich mehr geben dürfen. Fühlt man sich da nicht wie Schrödingers Katze, von der man nicht klar sagen kann, ob sie tot oder am Leben ist?
„Wir sind in einer seltsamen Lage. Sie kennen die Ergebnisse des EU-Referendums in Schottland. Wir haben gewonnen – klar sogar. Überall, wo ich Wahlkampf gemacht habe, haben wir gewonnen“, sagt der 45-jährige Rechtsanwalt und Mandatar der Scottish National Party, der zugleich zur Führungsriege der Grünen-Fraktion im Europaparlament zählt, im „Presse“-Gespräch. „Der Schrödinger-Vergleich trifft es exakt: Wir haben gewonnen, aber wir haben verloren. Und wir haben verloren, weil wir Teil des Vereinigten Königreiches sind. Wir müssen nun also mit den Konsequenzen einer Entscheidung zurande kommen, die nicht unser Fehler war.“
Sein erklärtes Ziel ist es nun, das scheinbar Unmögliche zu schaffen: „Ich respektiere zutiefst das Recht der Menschen, abzustimmen, wie sie wollen. Aber was die Folgen für mein Land und meine Bürger betrifft, die mit den Folgen leben müssen, denen gegen ihren Willen die Rechte als EUBürger entzogen werden: Da ist es mein Job, den Brexit zu stoppen.“Denn es sei heute klar, „dass dieses Referendum mit schmutzigem Geld und Versprechen erkauft wurde, die einzuhalten man nie beabsichtigte. Es war auf Lügen gebaut. 350 Millionen Pfund pro Monat für das nationale Gesundheitswesen – dieses Versprechen, das absoluter Nonsens war.“
Überraschungssieg beim EuGH
Was nach einer sinnlosen Kampagne vom Zuschnitt Don Quijotes klingt, ist bei näherer Betrachtung ein kühl kalkuliertes Abarbeiten aller legalen und politischen Möglichkeiten, den britischen EU-Austritt zu verzögern und ihn zu erleichtern, soferne sich dafür der Wille in London fände. So war Smith einer jener Abgeordneten, die voriges Jahr beim Gerichtshof der EU in Luxemburg erfolgreich darauf drangen, dass die Austrittserklärung nach Artikel 50 des EUVertrages, welche Theresa May Ende März 2017 abgegeben hatte, einseitig und jederzeit von den Briten zurückgezogen werden könnte. „Damit ging ein sehr helles Licht über einem möglichen Ausweg aus dieser Lage auf“, sagte Smith. „Wir können Artikel 50 zurückziehen, wenn wir eine Mehrheit dafür im House of Commons finden.“Gewiss: derzeit sei die Arithmetik nicht auf seiner Seite. „Aber das kann sich sehr schnell ändern. Wir haben dafür gesorgt, dass das auf dem Tisch bleibt, dass ein zweites Referendum auf dem Tisch bleibt – und wir haben die Unabhängigkeit für Schottland zurück in die Debatte gebracht.“
Smith denkt nicht, dass der neue Premierminister Boris Johnson sein Versprechen einhalten wird können, binnen 100 Tagen den Brexit herbeizuführen: „Das Königreich wird am 31. Oktober nicht bereit sein, auszutreten. Was auch immer also passiert, es wird einen Aufschub geben müssen.“ Denn wenn Johnson nach Brüssel komme, werde er feststellen müssen: „Oben ist noch immer oben, unten ist noch immer unten, Wasser ist noch immer nass, Kätzchen noch immer flauschig – und der Deal ist noch immer der Deal. Ich sehe nicht, wie er ein paar Bla-BlaÄnderungen bekommen kann und Frau Mays Deal damit durch das Parlament bekommt.“
„Briten vor sich selbst retten“
In den Umfragen seien derzeit nur mehr 51 Prozent der Schotten gegen die Unabhängigkeit, sagt Smith: „Und das, bevor wir noch mit der Kampagne begonnen haben.“Zudem würden rund 360.000 EU-Bürger, die in Schottland leben, dort demnächst das Wahlrecht erhalten.
Was wäre Smith wichtiger: ein unabhängiges Schottland – oder ein abgewendeter Brexit? „Das Vereinigte Königreich in der EU. Schauen Sie: Ich will Schottland unabhängig sehen. Aber der Brexit ist so entsetzlich für das gesamte Vereinigten Königreich, dass ich nicht denke, dass dieses Szenario der schottischen Unabhängigkeit helfen würde.“Und er fügt hinzu: „Wir haben 307 Jahre gewartet. Wir können ein bisschen länger warten. Zuerst müssen wir dem Vereinigten Königreich helfen, sich vor sich selbst zu retten.“