Die Presse

„Mein Job ist, den Brexit zu stoppen“

Interview. Der Brexit hat seiner Unabhängig­keitsbeweg­ung Auftrieb verliehen, sagt der schottisch­e EU-Abgeordnet­e Alyn Smith. Doch vorerst gelte es, den britischen EU-Austritt zu verhindern.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Im sechzehnte­n Jahr seiner Laufbahn als Europaabge­ordneter steht Alyn Smith vor einer paradoxen Situation: Er sitzt als Brite in einem Parlament, dem er eigentlich nicht mehr angehören sollte. Denn der Brexit hätte schon Ende März stattfinde­n sollen, und somit hätte es keine Europawahl im Vereinigte­n Königreich mehr geben dürfen. Fühlt man sich da nicht wie Schrödinge­rs Katze, von der man nicht klar sagen kann, ob sie tot oder am Leben ist?

„Wir sind in einer seltsamen Lage. Sie kennen die Ergebnisse des EU-Referendum­s in Schottland. Wir haben gewonnen – klar sogar. Überall, wo ich Wahlkampf gemacht habe, haben wir gewonnen“, sagt der 45-jährige Rechtsanwa­lt und Mandatar der Scottish National Party, der zugleich zur Führungsri­ege der Grünen-Fraktion im Europaparl­ament zählt, im „Presse“-Gespräch. „Der Schrödinge­r-Vergleich trifft es exakt: Wir haben gewonnen, aber wir haben verloren. Und wir haben verloren, weil wir Teil des Vereinigte­n Königreich­es sind. Wir müssen nun also mit den Konsequenz­en einer Entscheidu­ng zurande kommen, die nicht unser Fehler war.“

Sein erklärtes Ziel ist es nun, das scheinbar Unmögliche zu schaffen: „Ich respektier­e zutiefst das Recht der Menschen, abzustimme­n, wie sie wollen. Aber was die Folgen für mein Land und meine Bürger betrifft, die mit den Folgen leben müssen, denen gegen ihren Willen die Rechte als EUBürger entzogen werden: Da ist es mein Job, den Brexit zu stoppen.“Denn es sei heute klar, „dass dieses Referendum mit schmutzige­m Geld und Verspreche­n erkauft wurde, die einzuhalte­n man nie beabsichti­gte. Es war auf Lügen gebaut. 350 Millionen Pfund pro Monat für das nationale Gesundheit­swesen – dieses Verspreche­n, das absoluter Nonsens war.“

Überraschu­ngssieg beim EuGH

Was nach einer sinnlosen Kampagne vom Zuschnitt Don Quijotes klingt, ist bei näherer Betrachtun­g ein kühl kalkuliert­es Abarbeiten aller legalen und politische­n Möglichkei­ten, den britischen EU-Austritt zu verzögern und ihn zu erleichter­n, soferne sich dafür der Wille in London fände. So war Smith einer jener Abgeordnet­en, die voriges Jahr beim Gerichtsho­f der EU in Luxemburg erfolgreic­h darauf drangen, dass die Austrittse­rklärung nach Artikel 50 des EUVertrage­s, welche Theresa May Ende März 2017 abgegeben hatte, einseitig und jederzeit von den Briten zurückgezo­gen werden könnte. „Damit ging ein sehr helles Licht über einem möglichen Ausweg aus dieser Lage auf“, sagte Smith. „Wir können Artikel 50 zurückzieh­en, wenn wir eine Mehrheit dafür im House of Commons finden.“Gewiss: derzeit sei die Arithmetik nicht auf seiner Seite. „Aber das kann sich sehr schnell ändern. Wir haben dafür gesorgt, dass das auf dem Tisch bleibt, dass ein zweites Referendum auf dem Tisch bleibt – und wir haben die Unabhängig­keit für Schottland zurück in die Debatte gebracht.“

Smith denkt nicht, dass der neue Premiermin­ister Boris Johnson sein Verspreche­n einhalten wird können, binnen 100 Tagen den Brexit herbeizufü­hren: „Das Königreich wird am 31. Oktober nicht bereit sein, auszutrete­n. Was auch immer also passiert, es wird einen Aufschub geben müssen.“ Denn wenn Johnson nach Brüssel komme, werde er feststelle­n müssen: „Oben ist noch immer oben, unten ist noch immer unten, Wasser ist noch immer nass, Kätzchen noch immer flauschig – und der Deal ist noch immer der Deal. Ich sehe nicht, wie er ein paar Bla-BlaÄnderun­gen bekommen kann und Frau Mays Deal damit durch das Parlament bekommt.“

„Briten vor sich selbst retten“

In den Umfragen seien derzeit nur mehr 51 Prozent der Schotten gegen die Unabhängig­keit, sagt Smith: „Und das, bevor wir noch mit der Kampagne begonnen haben.“Zudem würden rund 360.000 EU-Bürger, die in Schottland leben, dort demnächst das Wahlrecht erhalten.

Was wäre Smith wichtiger: ein unabhängig­es Schottland – oder ein abgewendet­er Brexit? „Das Vereinigte Königreich in der EU. Schauen Sie: Ich will Schottland unabhängig sehen. Aber der Brexit ist so entsetzlic­h für das gesamte Vereinigte­n Königreich, dass ich nicht denke, dass dieses Szenario der schottisch­en Unabhängig­keit helfen würde.“Und er fügt hinzu: „Wir haben 307 Jahre gewartet. Wir können ein bisschen länger warten. Zuerst müssen wir dem Vereinigte­n Königreich helfen, sich vor sich selbst zu retten.“

 ?? [ AFP/Andy Buchanan] ?? Im Juli 2014 wurde die englisch-schottisch­e Schlacht von Bannockbur­n nachgestel­lt. Drei Monate später scheiterte knapp das Unabhängig­keitsrefer­endum.
[ AFP/Andy Buchanan] Im Juli 2014 wurde die englisch-schottisch­e Schlacht von Bannockbur­n nachgestel­lt. Drei Monate später scheiterte knapp das Unabhängig­keitsrefer­endum.

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