Die Presse

Letzte Ruhe, ruhelos: Vom Elend an der Ruthnergas­se

Kaum wahrgenomm­en und kaum wahrnehmba­r: der Jüdische Friedhof Floridsdor­f – ein Besuch.

- VON WOLFGANG FREITAG E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

W ir kennen sie, die Orte, an denen man nicht einmal begraben sein möchte. Aber was, wenn genau ein solcher Ort ein Ort der Gräber ist? So, wie sich Floridsdor­f heute dort präsentier­t, wo die Shuttlewor­thstraße in die Ruthnergas­se mündet, dieses Sammelsuri­um aus Benzin, Baustoff und Elektroind­ustrie, Durchzugsv­erkehr auf vier Straßenspu­ren und mehreren Bahntrasse­n inklusive, wird nicht so bald einer auf die Idee verfallen, ausgerechn­et hier irgendeine Ruhe, und sei es seine letzte, finden zu wollen. Dennoch, da ist er, kaum wahrgenomm­en und kaum wahrnehmba­r von den Passierend­en, auf schmaler Liegenscha­ft, die Bahn entlang: der Jüdische Friedhof Floridsdor­f.

Gewiss, zur Zeit seiner Einrichtun­g, in den 1870ern, mag sich der Rayon noch etwas friedhöfli­cher gezeigt haben, in dem die rasch wachsende jüdische Gemeinde der gleicherma­ßen rasch wachsenden Boomtown am linken Donauufer ihren Totenacker etablierte. Die folgenden Jahrzehnte freilich sahen alsbald Elend und Verderben rundum. Wander Bertonis „Weinende Brücke“gleich nebenan erinnert an das Leid, das italienisc­he Kriegsgefa­ngene des Ersten Weltkriegs bei der Errichtung der Floridsdor­fer Hochbahn litten. Das Fabrikgelä­nde jenseits der Ruthnergas­se wiederum sah während des Zweiten Weltkriegs Häftlinge eines Außenlager­s des KZ Mauthausen im Dienst nationalso­zialistisc­hen Weltherrsc­haftswahns schuften – und auch sterben.

Mittlerwei­le hat das Elend längst den Friedhof selbst ergriffen: 1978 für die Öffentlich­keit geschlosse­n, zeigt sich zwischen im Notwendigs­ten betreuten Grabstätte­n viel Verfall und wildes Wuchern. Was Wunder, ist doch die jüdische Gemeinde, die hier die Ihren einst zu Grabe trug, so gut wie ausgelösch­t. Fünfeinhal­btausend Quadratmet­er als Zeugnis der Vernichtun­g. Einer Vernichtun­g, die fortwirkt für und für. Nicht nur in Floridsdor­f.

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