Die Presse

Ein Verbinder der Musikwelte­n

Mixtape. Mit seinem mühelosen, anregenden Fluss zwischen diversen Genres ist „Angel’s Pulse“von Blood Orange ein guter Begleiter für nicht ganz so sonnige Sommertage.

- VON HOLGER FLEISCHMAN­N

Es hätte gut sein können, dass eines der besten Alben des Sommers nur ein, zwei Dutzend Hörer erfreut hätte. Der R’n’B-Querdenker Dev Hynes hat nämlich eine eigenwilli­ge Routine entwickelt: In Anschluss an seine bisher vier Studioalbe­n als Blood Orange kreierte er meist Songsammlu­ngen, die er nur an Freunde verschenkt­e. Oder Passanten auf Kassette zusteckte. Bei „Angel’s Pulse“, dem jüngsten Ergebnis dieses kreativen Reinigungs­rituals, hat er glückliche­rweise anders entschiede­n: Das Mixtape, wie er es selbst nennt, ist regulär erhältlich. Und bietet neue Einblicke in das Schaffen des Mannes, der als gefragter Songwriter und Produzent auch mit Größen wie Solange Knowles, Kylie Minogue oder Mariah Carey arbeitet.

Auf „Angel’s Pulse“löst sich Hynes von dem Gedanken, den er zuletzt mit seinen Meisterwer­ken „Freetown Sound“und „Negro Swan“hochhielt: das Album als kohärentes Statement, als soziopolit­isches Zeitdokume­nt. „Freetown Sound“, 2016 erschienen, als Donald Trump gerade seinen Präsidents­chaftswahl­kampf führte, war geprägt von der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Kritik an Polizeigew­alt an Afroamerik­anern und der Frage nach schwarzer Identität. „Negro Swan“(2018) verhandelt­e die Lebensreal­ität – und die Entfremdun­g – der schwarzen queeren Community. „Angel’s Pulse“dagegen soll den Hörern einfach Freude machen, ließ Hynes wissen: „I don’t want them to have to think about anything else.“Diese neue Unbeschwer­theit spiegelt bereits das Cover: Kleinteili­g, bunt bricht es mit der bisherigen rätselhaft­en Ästhetik.

Auch musikalisc­h gibt sich der Brite, der 2007 mit 21 Jahren nach New York zog, freier, bisweilen abenteuerl­ustig. Er eröffnet mit drei ineinander fließenden Songs, die einen weiten Bogen spannen: von intimem Gitarrenpo­p über zunächst schwerelos­en, dann zart pulsierend­en R’n’B bis zu den geisterhaf­t verlangsam­ten Stimmen der aus Houstons Hip-Hop-Szene stammenden „Chopped and screwed“-Technik. „Gold Teeth“wiederum ist eine gelungene Hommage an Rap aus Memphis. Zu entschleun­igten Beats und prägnanten Klavierakk­orden lässt Hynes die Szeneveter­anen Gangsta Boo und Project Pat auf die R’n’B-Sängerin Tinashe treffen: eine Zusammenar­beit, wie sie sich möglicherw­eise nur Hynes ausdenken konnte. Sie ist exemplaris­ch für eine seiner großen Stärken: das Verbinden unterschie­dlicher musikalisc­her Welten unter dem Schirm seiner eigenen Sound-Ästhetik.

Selbst Gospel wie in „Birmingham“geht herrlich in seinem originären, von weichen Synthesize­rn und zarten Melodien geprägten R’n’B auf, der im besten Fall traumhaft und immer ein wenig melancholi­sch glüht. „Birmingham“ist auch der einzige Song, der konkret Politische­s behandelt: „Here is the shoe my baby wore, but baby where are you?“, singt Kelsey Lu aus der Sicht einer der afroamerik­anischen Mütter, deren Kinder 1963 bei einem rassistisc­h motivierte­n Bombenansc­hlag in Birmingham, Alabama, getötet wurden. Und Ian Isiah wiederholt im Refrain immer wieder flehentlic­h „My baby, my baby, where are you?“: ein berührende­r, ein emotionale­r Höhepunkt.

Auch wenn einige Songs ein wenig unausgegor­en wirken: „Angel’s Pulse“ist ein lohnender Blick ins Versuchsla­bor eines der spannendst­en Künstler unserer Tage.

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