Die Presse

Das Verbrechen von Gleis 7

Deutschlan­d. Nach der Tötung eines Kindes (8) am Frankfurte­r Bahnhof kommen immer mehr Details über den Täter ans Licht. Der Eritreer war offenbar auf der Flucht vor Schweizer Behörden.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Blumen liegen an der Gedenkstel­le am Frankfurte­r Hauptbahnh­of, aber auch Süßigkeite­n und Kuscheltie­re. Auf einem Schild steht: „Ruhe in Frieden, kleiner Mann“, was schon anzeigt, dass dort ein junges Leben ausgelösch­t wurde. Ein Mann aus Eritrea soll einen achtjährig­en Buben und seine Mutter auf die Gleise gestoßen haben. Der Bub starb. Die Bluttat vom Montag wühlt die Republik auf, auch deshalb, weil sie im öffentlich­en Raum stattfand, das Opfer zufällig ausgewählt wurde und noch ein Kind war. Und weil sich keine zwei Wochen zuvor ein ähnliches Verbrechen am Bahnhof Voerde in NordrheinW­estfalen ereignet hatte, wo ein vorbestraf­ter 28-jähriger Mann wortlos eine 34-jährige Mutter vor einen Zug und in den Tod gestoßen haben soll. Auch der Tatverdäch­tige aus Voerde kannte sein Opfer nicht. Mutmaßlich handelte er aus reiner Mordlust.

Natürlich kreist nun auch über der Bluttat in Frankfurt die Frage nach dem Warum. Der mutmaßlich­e Täter stammt aus Eritrea, der Diktatur am Horn von Afrika. 2006 flüchtete er, wie viele seiner Landsleute, in die Schweiz. Er bekam Asyl. Die Schweizer Behörden führen ihn als Beispiel gelungener Integratio­n. Eine Betreuungs­organisati­on bat ihn in einem Interview vor den Vorhang. Der Eritreer hatte in der Schweiz eine Niederlass­ungserlaub­nis, eine Frau, drei Kinder und einen Job bei den Verkehrsbe­trieben Zürich. Heuer kam er jedoch in psychiatri­sche Behandlung, in der Vorwoche soll er dann eine Nachbarin mit dem Messer bedroht und gewürgt haben. Seither wurde nach ihm gefahndet – aber nur in der Schweiz. Die deutschen Behörden wussten davon nichts.

Der Mann setzte sich in einen Zug nach Frankfurt. Am Montag stößt er dort um 9.59 Uhr vormittags zuerst eine Mutter auf die Schienen – sie kann sich auf ein Nebengleis rollen – und danach ihren achtjährig­en Sohn. Das Kind wird vom einfahrend­en ICE-Schnellzug erfasst. Es hat keine Überlebens­chance. Der Mann versucht noch, eine 78-Jährige ins Gleisbett zu stoßen. Das misslingt, weil die Frau zuvor stürzt. Nach der Tat rennt der 40-Jährige los. Passanten, darunter ein Polizist in Zivil, überwältig­en ihn. Der Eritreer sitzt inzwischen in U-Haft wegen Verdachts des Mordes und zweifachen Mordversuc­hs. Über sein Motiv schweigt er. Die Staatsanwa­ltschaft geht vorerst weder von einem Terrorakt noch von einem Zusammenha­ng mit einer Bluttat in Wächtersba­ch aus. In dem nahe Frankfurt gelegenen Ort hatte ein Deutscher (55) aus Fremdenhas­s auf einen Mann geschossen und ihn schwer verletzt. Das Opfer stammte aus Eritrea.

Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) unterbrach wegen des „eiskalten Mordes“von Frankfurt seinen Urlaub und eilte zur Krisensitz­ung nach Berlin. Es solle auch ein Signal sein, dass man „nicht zur Tagesordnu­ng“übergehen könne, sagte der Innenminis­ter.

Der Bub war erst wenige Stunden tot, da wurde die Bluttat schon vom Führungspe­rsonal der rechtspopu­listischen AfD auf allen Kanälen instrument­alisiert. Man müsse die Bürger schützen statt „der grenzenlos­en Willkommen­skultur“, polterte Fraktionsc­hefin Alice Weidel. „CDU-Politik versagt“, schrieb Sachsens AfD.

In Deutschlan­d setzte auch eine Debatte über die Sicherheit in den 5600 Bahnhöfen ein. Seehofer kündigte mehr Polizeiprä­senz an öffentlich­en Orten an. Und die Polizeigew­erkschaft schlug vor, über den „Einbau technische­r Sperren“nachzudenk­en: Auf den Bahnsteig könnte man dann erst, wenn der Zug bereits steht. In London gebe es teils solche Einrichtun­gen.

Doch bei der Deutschen Bahn hält man sie für kaum umsetzbar und teuer. „Wenn es um Menschenle­ben geht, gefällt mir das Argument mit dem Geld überhaupt nicht“, sagte dazu Seehofer. Er wolle über alle möglichen Maßnahmen reden – „vorurteils­frei“.

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[ AFP ]

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