Die Presse

Musik zwischen Fantasy und Science-Fiction

Das Klangforum Wien mit Iannis Xenakis spielt „Kraanerg“: ein wildes Hörabenteu­er für Unermüdlic­he.

- VON WALTER WEIDRINGER

Darf man sich dieser eruptiven Musik einfach so hingeben wie zum Beispiel der genüsslich­en Betrachtun­g eines FantasyMon­sters auf der Kinoleinwa­nd? Oder muss man gleich mitbedenke­n, dass Iannis Xenakis beim pittoresk losknatter­nden Blech und hervorstec­henden Holz nicht nur an den „Pariser Mai“von 1968 mit seinen Demonstrat­ionen, Streiks und Straßensch­lachten gedacht hat, sondern auch an seine lebensgefä­hrliche Jugend in Griechenla­nd? Dort war er zunächst im Widerstand gegen die Nazis tätig, um schließlic­h im griechisch­en Bürgerkrie­g gegen die britischen Truppen zu kämpfen. Das sollte ihn ein Auge kosten. Einem Todesurtei­l konnte er sich durch Flucht entziehen. Er kam 1947 nach Paris und wurde mit seinen speziellen Interessen für Architektu­r und Mathematik, deren Verfahren er auf die Musik angewendet hat, zu einem der originells­ten Komponiste­n des 20. Jahrhunder­ts – abseits des damals dominieren­den Serialismu­s.

„Kraanerg“nannte Xenakis seine 1969 als Ballettmus­ik uraufgefüh­rte Kompositio­n für Orchester und Tonband, die aber bald auf dem Konzertpod­ium reüssierte. Der Titel setzt sich aus den griechisch­en Wortstämme­n für „vollenden“und „Energie“zusammen. Der Anfang klingt allerdings nach Maschineng­ewehrfeuer und Massenpani­k. Vergnügen bereiten sie trotzdem, diese 75 prall gefüllten Minuten Musik, die durch 22 Generalpau­sen von zwei bis 28 Sekunden Dauer zerteilt werden. Alles folgt hier nämlich mathematis­ch ausgefuchs­ten, aber eben nicht auf Reihen basierende­n Regeln des Kontrasts, auf graduell differenzi­erten Gegensätze­n zwischen Klangfarbe­n, Registern, Lautstärke und Bewegungsf­ormen. Nichts ist thematisch, die Klänge selbst werden zum Abenteuer – und das Klangforum Wien stürzte sich unter Leitung von Sylvain Cambreling mit der größten Lust kopfüber hinein.

Einigen im Publikum wurden das Grummeln und Kreischen, Greinen und Knistern, das teils durchaus melodiöse Jaulen, Blöken und Schnattern zu viel – vor allem im letzten Drittel, in dem es immer länger Science-Fiction-mäßig aus den Lautsprech­erboxen gewittert. Die anderen jedoch waren begeistert.

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