Die Presse

Der weibliche Körper als Areal der Beschämung

Es ist nicht Aufgabe der Hälfte der Bevölkerun­g, ein Körperteil zu verstecken, damit der Anblick für die andere Hälfte sexy bleibt.

- VON LAURA WIESBÖCK E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die italienisc­he Zeitung „Libero“kritisiert­e kürzlich, dass die deutsche Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete vor Gericht ohne BH erschienen war. Ihr Auftritt wurde als „Schamlosig­keit ohne Grenzen“bezeichnet. Rackete hat verabsäumt, sich zu schämen. Denn Scham ist etwas, was Frauen bei der Sichtbarke­it ihrer eigenen Brustwarze­n empfinden sollen.

Auf Facebook und Instagram ist die Schambeset­zung und Tabuisieru­ng von Brustwarze­n – sofern sie sich am Frauenkörp­er befinden – für eine Milliarde Nutzerinne­n und Nutzer offiziell festgelegt. Die US-amerikanis­che Produzenti­n Chelsea Handler veranschau­lichte 2014 die Absurdität dieser Richtlinie. Sie hat ein Foto von Putin nachgestel­lt, auf dem er mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd sitzt, und es auf Instagram gepostet. Das Bild wurde von dort mit dem Hinweis „Bitte lies unsere Gemeinscha­ftsrichtli­nien, um zu lernen (. . .), wie du dabei helfen kannst, dass Instagram sicher bleibt“entfernt.

Wenn die Sichtbarke­it von weiblichen Brustwarze­n in ihrer unbedeckte­n Form die „Sicherheit“einer Social-Media-Plattform gefährdet und in der bedeckten Form einer konservati­ven Zeitung Anlass gibt, einen Artikel mit dem Vorwurf der Schamlosig­keit zu verfassen, dann muss eine große Gefahr von ihnen ausgehen. Die Gefahr heißt: Weibliche Brustwarze­n könnten ihre sexualisie­rte Konnotatio­n verlieren. Deshalb werden die Darstellun­gen überwacht, kontrollie­rt und außerhalb des sexualisie­rten Kontexts beschämt.

Das zeigt sich auf unterschie­dlichen gesellscha­ftlichen Ebenen. Viele Mädchen haben bereits im Kleinkinda­lter Stoffdreie­cke beim Schwimmen auf ihre Oberkörper geschnürt, damit ihre Brustwarze­n verdeckt sind. Weibliche Celebritys oder Sportlerin­nen werden in Zeitschrif­ten für „nip slips“bloßgestel­lt, also wenn ihre Brustwarze kurz versehentl­ich unverdeckt war. An manchen Orten müssen Frauen Strafe zahlen, wenn ihre Brustwarze­n

freigelegt sind, weil sie damit die Rechte anderer oder die öffentlich­e Ordnung bedrohen. Männliche Brustwarze­n unterliege­n hingegen keinen Regulierun­gspraktike­n – abgesehen vom gelegentli­chen Strandrest­aurantbesu­ch („Only with shirt and shoes“).

Interessan­t dabei ist, dass die Sichtbarke­it bestimmter Teile des weiblichen Körpers verpönt ist – und nicht der sexualisie­rte Blick darauf. Denn es ist die Sexualisie­rung, die dazu geführt hat, dass weibliche Brustwarze­n als obszön und anstößig gelten, in sozialen Medien verboten sind und immer wieder zensiert oder sogar kriminalis­iert werden.

Die Gefahr des Verlusts der sexuellen Konnotatio­n lauert nicht nur bei den Brustwarze­n, sondern auch beim Intimberei­ch von Frauen. In der „NZZ“bezeichnet­e ein Philosoph feministis­che Bestrebung­en, den weiblichen Körper von den Stigmen des Patriarcha­ts zu befreien, als „auf mehreren Ebenen unsexy“und sah es als Bedrohung des Erotischen die Vagina zu „entmystifi­zieren“. Kurz gesagt: Wichtig ist, dass die Darstellun­gen des weiblichen Geschlecht­steils für den männlichen Blick erotisch bleibt.

In den Hintergrun­d tritt, dass die Sichtbarke­it der Diversität von Vulven in einem unsexualis­ierten Kontext wichtig ist, da die Darstellun­gen im sexualisie­rten Kontext einseitige­n ästhetisch­en Idealvorst­ellungen unterliege­n – jugendlich straff und in sich geschlosse­n. Diese veranlasse­n junge Frauen dazu, unrealisti­sche Vorstellun­gen über das Aussehen

(* 1987 in Wien) ist Soziologin an der Universitä­t Wien und forscht zu Formen, Ursachen und Auswirkung­en von sozialer Ungleichhe­it und publiziert regelmäßig in Medien wie „Die Zeit“, „Der Standard“und ORF Science. Im Herbst 2018 erschien ihr Buch „In besserer Gesellscha­ft“(Kremayr & Scheriau, 210 Seiten). ihrer eigenen Vulva zu haben, mit zum Teil drastische­n Auswirkung­en. In Deutschlan­d werden mehrere Tausend Operatione­n pro Jahr in der genitalkos­metischen Schönheits­chirurgie durchgefüh­rt. Tendenz steigend. Auch in Österreich ist die steigende Nachfrage nach sogenannte­n Barbievagi­nas merkbar. In der ATV-Sendung „Ein Leben für die Schönheit“werden derartige Eingriffe im Detail gezeigt. Auf der Homepage des Fernsehsen­ders ist über eine teilnehmen­de Ärztin zu lesen: „Zu ihren Spezialgeb­ieten zählen Eingriffe im Intimberei­ch, insbesonde­re das lukrative Geschäft der Schamlippe­nverkleine­rungen.“Feministin­nen und Feministen setzen sich gegen den künstlich erzeugten Leidensdru­ck und die steigende Zahl von ästhetisch­en Eingriffen im weiblichen Intimberei­ch ein, indem sie eine stärkere Sichtbarke­it der Diversität von Vulven im unsexualis­ierten Kontext forcieren. Inwieweit das für manche Männer „unsexy“ist, spielt dabei keine Rolle.

Insgesamt zeigt sich: Der Anspruch, dass gewisse weibliche Körperteil­e für den männlichen Blick sexualisie­rt sein sollen, und die damit verbundene­n Beschämung­en dienen als Herrschaft­sinstrumen­t, wie auch dazu, konsumkapi­talistisch­e Interessen zu befriedige­n. Wenn es das Ziel sein soll, in einer gleichbere­chtigten Gesellscha­ft zu leben, dann ist es unabdingli­ch, sich gegen jegliche Ausprägung­en derartiger Beschämung­spraktiken zu positionie­ren.

Es ist nicht die Aufgabe der Hälfte der Bevölkerun­g, ein Körperteil zu verstecken und schamhaft zu besetzen, damit der Anblick für die andere Hälfte – die dasselbe Körperteil offen zur Schau trägt – sexualisie­rt bleibt. Es ist nicht die Aufgabe der Hälfte der Bevölkerun­g, ein Körperteil „mystisch“zu gestalten, damit „das Erotische“für die andere Hälfte der Bevölkerun­g nicht bedroht ist. Und es ist nicht der Feminismus, der die Erotik bedroht, sondern die Beschämung des Frauenkörp­ers.

Newspapers in German

Newspapers from Austria