Das Verschwinden des Arbeiters
Industrie. Wenn SPÖ und SPD einmal tot sind, kann man ihnen dieses Buch auf den Sargdeckel legen. Eine neue Studie über das Schicksal der Industriearbeiter nach dem Boom.
Die Menschen im Glasgower Hafen blieben bewundernd stehen, wenn der mächtige Finniestone Crane wieder einmal eine tonnenschwere Dampflokomotive auf ein Handelsschiff hob. Bis in die 1960er-Jahre war die schottische Stadt am Clyde eine wichtige Industriestadt. Dann wurden die Werften, Stahlwerke, Maschinenbaufabriken und Hafenanlagen funktionslos, spektakuläre Kulturbauten sind an ihre Stelle getreten. Nur der mächtige Kran ist noch da und erinnert – als viel fotografiertes Denkmal – an die industrielle Vergangenheit.
Zwei denkmalgeschützte Fabriksgebäude aus dem 19. Jahrhundert im oberösterreichischen Steyr: Hier wurden zuerst Messer, dann Waffen und zuletzt Essbesteck produziert. 1987 wurde in den Gebäuden ein Museum eingerichtet, es erzählt von einer vergangenen Epoche, präsentiert Technikgeschichte. Alte Industriezonen interessieren nur mehr Eventmanager. Fabrikshallen werden zu Denkmälern, Bahntrassen zu Radwegen, Kläranlagen zu Goldfischbecken, Türme zu Klangkunstwerken.
Das alles ist Folge eines beispiellosen krisenhaften Strukturwandels, der in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts begann. Der deutsche Historiker Lutz Raphael hat über diese Phase der 30 Jahre dauernden Deindustrialisierung Westeuropas ein überaus reichhaltiges Buch geschrieben, er nimmt Bezug auf Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Österreich kommt nicht vor, doch wenn man die 80er-Jahre hierzulande miterlebt hat, mit der Pleite der verstaatlichten Industrie und dem verzweifelten Kampf der Politik um die verloren gegangenen Arbeitsplätze, kann man als Leser die Bezüge mühelos selbst herstellen.
Stahlwerke, Kohlezechen, Werften und Textilfabriken, sie waren bis dahin das Rückgrat der Volkswirtschaften gewesen. Der Nachkriegsboom hatte mit seinem „Fahrstuhleffekt“fast alle Berufsgruppen und Schichten in höhere Etagen von Kaufkraft und sozialer Sicherheit gebracht. Industriearbeiter waren die größte Berufsgruppe. Bis 1970 war das wesentliche Merkmal industrieller Arbeit noch die ständige Wiederholung derselben Handgriffe oder technischen Routinen. Das wurde nun radikal anders.
Altes Fachwissen wurde entwertet, Produktion und Kundenkontakte wurden zunehmend elektronisch erledigt. Wer seinen Lebensplan nicht rasch revidierte und in der sich nun ausbildenden Dienstleistungsgesellschaft unterkam, wurde Teil der Massenarbeitslosigkeit. Zwischen 1975 und 2012 schrumpfte in England und Frankreich die Zahl der Industriearbeitsplätze um die Hälfte. Ihr Anteil an der Bevölkerung sank auf ein Fünftel. In Großbritannien ging das am schnellsten, in den sozialistischen Planwirtschaften Mittel- und Osteuropas kam der Zusammenbruch später, dann aber mit unerhörter Brutalität.
Nun funktionierte der Fahrstuhl nicht mehr für alle. Stoppen ließ sich der Prozess nicht, nur verzögern. Faktisch subventionierten nämlich die Regierungen die Krisenbranchen eine Zeit lang, um die Werksschließungen und Massenentlassungen sozial verträglich abzuwickeln. („Ein paar Millionen Staatsschulden bereiten mir weniger Sorgen als ein paar Tausend Arbeitslose“, sagte Österreichs Kanzler Kreisky damals). Langfristige Stabilisierung gelang aber fast nirgends. Der Staat musste sich aus der Industrie zurückziehen. Frankreich subventionierte weiter, eine Zeit lang auch Österreich. Im Mutterland der industriellen Revolution, im England unter Margaret Thatcher, war man schneller, hier erkannte man die Bedeutung des neuen Finanzmarktkapitalismus und sprach cool und verächtlich von „Yesterday’s industries“. Lang vor dem Brexit wurde hier eine Kluft zwischen der Insel und dem Kontinent merkbar.
Ab den 70er-Jahren lief der Industriemotor nicht mehr rund. Schuld war eine Welle von Rezessionsjahren zwischen 1973 und 2000. In diesen Krisenjahren vollzog sich der Aufstieg anderer industrieller Standorte mit höheren Wachstumsraten in Asien. Fertigungsprozesse wurden verlagert, dorthin, wo die Lohnkosten am niedrigsten waren. Die Internationalisierung der Märkte, die Globalisierung, kostete ihre Opfer. Vollbeschäftigung wurde in Europa zum Fremdwort, Flexibilität das neue Modewort. Ist nicht jeder seines Glückes Schmied?
Heute können wir, das beweist Raphaels Buch, bereits zurückblicken auf diese Boomjahre, als abgeschlossene Phase der europäischen Moderne. Die anfangs beschriebene Musealisierung ganzer Industriezonen mutet wie ein Abschluss des Strukturwandels an. Was aus dem Blickfeld geriet, war das Milieu der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Meister, der Vorarbeiter, ihnen ging es so wie einigen Jahrzehnten zuvor Handwerkern und Bauern, sie wurden „noch zu ihren Lebzeiten Bestandteil einer zukünftigen Vergangenheit, ohne Perspektiven in der Gegenwart, geschweige denn in der Zukunft“(Raphael). Ein Großteil ihres Erfahrungswissens wurde faktisch ausgemustert. Viele fanden nach ihrer Entlassung keine Stelle mehr, durch die Serienfertigung waren nur noch wenige Arbeiter an den Maschinen eingesetzt. Weder der neue starke, aber unbeständige tertiäre Sektor noch der öffentliche Dienst konnten sie alle aufnehmen. Wie sollten die einstigen Proletarier, die „Baraberer“, Anschluss finden und sozial abgesichert werden?
Die Sicht auf die negativen sozialen Begleiterscheinungen der postindustriellen Ordnung interessiert Lutz Raphael besonders, hier merkt man dem nüchternen Wissenschaftler die Anteilnahme an. Männliche Industriearbeiter über 50 schieden vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus, ihre Existenz als Früh- oder Invaliditätsrentner wurde sozialpolitisch abgefedert. So verlief diese Degradierung erstaunlich geräuschlos, die Betroffenen resignierten. Streiks waren ohnehin sinnlos, die Gewerkschaften machtlos geworden. Schlimm wurde es für die jüngeren, ungelernten Arbeiter: Sie landeten in prekären, oft berufsfremden und befristeten Beschäftigungen. Stabile Lebensverhältnisse wurden so erschwert. Hier schlugen die Exklusionsrisken voll zu, schlechtere Wohnverhältnisse, ungenügende Gesundheitsversorgung, katastrophale Altersversorgung. Es kam zu den berüchtigten Ausschreitungen in den französischen Banlieues und den Riots in Liverpool, Manchester, Birmingham.
Es fällt Lutz Raphael nicht schwer, die Brücke zur aktuellen Krise der liberalen Demokratie in Europa zu schlagen. Mit dem Verschwinden eines kompakten soziokulturellen Milieus rund um die Industriearbeiterschaft verschoben sich auch die politischkulturellen Koordinaten der Betroffenen. Sie zogen sich von der politischen Bühne zurück und gingen auf Distanz zu den sozialdemokratischen Parteien, von denen sie sich nicht mehr vertreten fühlten. Raphael spricht vom „Syndrom des politischen Verlassenwerdens“. Die Enttäuschung richtete sich aber gegen Parteien und Politik generell. Das führte sie mehr oder weniger direkt zu neuen politischen Akteuren, etwa den rechtspopulistischen Protestbewegungen. Für SPÖ und SPD ist Lutz Raphaels Studie also das Buch der Stunde.