Der globale Sommergast, ein Wüterich
Salzburger Festspiele. Von bösen Männern und geilen Mädchen handelt Evgeny Titovs wohldurchdachte GorkiInszenierung auf der Halleiner Perner-Insel. Das Publikum bejubelte eine nicht nur schauspielerisch imposante Aufführung.
Schwängern, schwängern, schwängern, dann ist die Frau einem völlig ausgeliefert“, empfiehlt der zynische Ingenieur Suslow. Die andern Männer pflichten ihm bei. „Frauen sind eine niedere Rasse“, sagt der eine, „dem Tier näher als wir“, der andere: „Frauen brauchen einen Despoten“, ist der dritte überzeugt. So enden Gorkis „Sommergäste“bei den Salzburger Festspielen auf der Halleiner Perner-Insel. Der Russe Evgeny Titov zeigt eine ekstatische Party, die sich immer mehr ins Abgründige steigert.
Es beginnt mit einer lauten, hohlen Begrüßung. Einige Gäste haben offenbar schon daheim „vorgeglüht“, sprich ein Gläschen getrunken. Es folgen: Tanz zu dröhnenden Techno-Beats, Annäherungen, Abstoßungen, Beleidigungen, Versöhnungen und ein existenzieller „Kater“. Die slowenische Regisseurin Mateja Koleznikˇ hat für diese „Sommergäste“abgesagt, das Ensemble ist wohl großteils gleich geblieben. Titov griff hart zu, er wühlte sich in den Text hinein.
„Wo blieb die russische Seele?“, seufzte eine Besucherin. Ja, wo blieb die in diesem stylish-coolen Stück typisch deutschen Regietheaters? Aber vielleicht gibt es die russische Seele nicht mehr, vielleicht sind die Russen von heute den Westlern näher als mancher wahrhaben will. Titov enthüllte aktuelle Codes in den Figuren: Da ist der schlaue Rechtsanwalt Bassow, der sein Geld vielleicht mit Transaktionen wie dem Verkauf einer schrottreifen Lebensmittelfirma an Deutsche verdient; der frühere Eigentümer namens Doppelpunkt schwingt erfreut seinen Geldsack und kann endlich seinem Lieblingshobby frönen, Menschen, vor allem schöne Frauen, zu kaufen.
Bassows Frau, Tochter einer Wäschereibesitzerin, will allerdings beim allgegenwärtigen Ausverkauf nicht mitmachen. Die Sauberfrau liest Bücher und verdrießt ihren Ehemann mit geistiger Überlegenheit. Die zwei haben keine Kinder, weil sie längst keinen Sex mehr haben, erkennt messerscharf die Arztfrau mit der Großfamilie, deren Mann im Sumpf der Lokalpolitik herumrudert und an seinem Beruf wie an seinen Kindern das Interesse verloren hat. Seiner ob
der Plage mit den Kids greinenden Frau wirft der Doktor beinahe eine Flasche an den Kopf, bevor sich die zwei wieder versöhnen und neuen Nachwuchs produzieren.
Diese „Sommergäste“sind weit entfernt von Peter Steins noblen Übungen mit Russen, aber auch von Achim Bennings feinsinniger Annäherung an die „Sommergäste“mit Erika Pluhar im Burgtheater, die 1980 zum Berliner Theatertreffen eingeladen war.
Diese Gorki-Figuren haben eine Viechswut, wobei sie kurioserweise wie entfesselte Charaktere von Botho Strauß wirken, die immer wieder ihren kultivierten Diskurs sprengen. Da reißt die hübsche Julija, Frau des Ingenieurs, plötzlich eine Pistole aus ihrer Clutch und versucht, den Gatten zum Selbstmord zu überreden: Schnell bitte, der Lover wartet! Das bunt gemischte Ensemble, Deutsche, Russen, die in Deutschland aufgewachsen sind, Slowenen, Österreicher, musiziert eine raue Sprachsymphonie über Sehnsüchte und Enttäuschungen. Mit deren Einstudierung hat Titov etwas Einmaliges geschaffen. Die meisten Figuren sind typengerecht besetzt. Doch ist dies kein bun˜uelesker Film, sondern eine Kreation, die über das Wort und die Dialoge funktioniert – im beredten Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt: Advokat Bassow hat ein großes, aber wenig geschmackvolles Haus – und eingerichtet ist es auch noch nicht.
Die Bürger, die Zaren und Putin
Von all den temperamentvollen Glückshandwerkern, die hier verzweifelt versuchen, ihr Schicksal neu zusammenzuschrauben, bleiben ein paar besonders in Erinnerung: Genija Rykova, die enttäuschte Idealistin Warwara Michajlowna, Primozˇ Pirnat als ihr Mann, der Anwalt, der so gern den guten und sanften Menschen beschwört, der er selbst wohl am allerwenigsten ist. Gerti Drassl begeistert als schneidende Poetin, noch mehr Marie-Lou Sellem als Ärztin, die Einzige, die ernsthaft die Welt verbessern will. Vor allem die Zeichnung der Frauen gelang Titov genial, facettenreich und einfühlsam. Großartig ist aber auch Thomas Dannemann, der ratlose Schriftsteller, ein Alter Ego Gorkis wie auch der hellsichtige Rjumin (Marko Mandic).´ Martin Schwab entzückt als ehemaliger Industrieller. Öfter scheint das Drama am Mord vorbeizuschrammen, schließlich gibt es einen Selbstmord. Auch Gorki versuchte sich zu erschießen.
Das Programmheft klagt das Bürgertum an, „das an Egoismus, Selbstentfremdung und Langeweile erstickt“. Allerdings scheinen die Chancen gesellschaftlicher Veränderung auch gering angesichts autokratischer Politik, die Widerstand immer wieder ausschaltet. Nicht nur in Russland.
Die wahre Ursache der russischen Katastrophen, die der Revolution vorangingen, war nicht der Mittelstand, sondern die lange, skrupellose Herrschaft der Zaren, die zuletzt der britische Historiker Simon Sebag Montefiore in seinem Buch „Die Romanows“spannend beschrieb. Montefiore erläutert, dass Putins Regime ähnlich funktioniert. Das klingt auch in diesen „Sommergästen“an.