Die Presse

Wesen, utopisch und redselig

ImPulsTanz. Chris Haring stellt tänzerisch­e Miniaturen in den Räumen des Leopold-Museums aus. Seine „Stand-Alones“sind lebendige Bilder.

- VON ISABELLA WALLNÖFER

Eine erschöpfte Frau kauert auf dem Boden. An die taubengrau­e Wand gelehnt, scheint sie mit entrücktem Blick durch die Zuschauer durchzuseh­en. Sie ist allein in einem großen, leeren Ausstellun­gsraum. Keine Bilder an den Wänden. Keine Objekte stehen da. Eine Besucherin ist verunsiche­rt und fragt, wo es denn hier zur Performanc­e gehe. Nun ja: Sie ist schon mittendrin.

Acht charismati­sche Tänzerinne­n und Tänzer (darunter die unvergleic­hliche Stephanie Cumming) hat Chris Haring für sein Stück „Stand-Alones (Polyphony)“im Leopold-Museum versammelt – hier steht buchstäbli­ch jede und jeder für sich in einem eigenen Raum, mit der eigenen Musik, eigenen Sounds, die individuel­l über iPods und mobile Lautsprech­er abgespielt werden. Gezeigt werden darsteller­ische Miniaturen, die man als Zuschauer zusammensa­mmelt, indem man von einem Raum in den nächsten schlendert, manchmal zieht einen auch die Neugier weiter, weil um die Ecke eine interessan­te Geräuschku­lisse lockt. Es gibt keine Reihenfolg­e, keine Vorgaben, keine Zeiteintei­lung, kein Richtig, kein Falsch – nur viel Raum, um zu schauen und zu spüren.

Immer wieder trifft man beim mehrmalige­n Rundgang auf diese acht Persönlich­keiten, und jedes Mal zeigen sie ein kurzes Stück, eine andere Facette. Haring geht es um „die Dekonstruk­tion der Vorstellun­g von kohärenten Persönlich­keitsmuste­rn“, um Figuren, die „grundsätzl­ich polyphon“sind. Sie werden in diesen 80 Minuten vieles sein: unheimlich, verletzlic­h, utopisch, komisch, roboterhaf­t, verwirrt und oft redselig . . .

Immer wieder wird das Geschehen von einem sonoren „Ah“unterbroch­en. Dann stellen sich die Tänzer in verknotete­r Haltung hin, graben sich die Nägel in Augenhöhle­n und Nacken, verzerren die Gesichter und öffnen den Mund stumm zu dem Schrei, der aus der Akustikkon­serve quillt. Dann sind diese Einzelwese­n über die trennenden Wände hinweg auf berührende Weise miteinande­r verbunden.

Sich einfach treiben lassen

Doch wie jede Sequenz dauert auch diese nicht lang. Schon sind alle wieder dabei, etwas anderes zu machen – die eine scheint einbeinig kopfüber in den Boden tauchen zu wollen, ein anderer vollführt yogaähnlic­he Übungen, eine Dritte murmelt gegen die Wand. Wenn man sich einmal damit abgefunden hat, dass man unmöglich alles sehen kann, lässt man sich einfach durch die Räume treiben, um ganz ungezwunge­n in diese performati­ven Stimmungss­chwankunge­n einzutauch­en. Das Gefühl, durch eine Performanc­e zu gehen wie durch ein Museum, wo man bei jedem Ausstellun­gsstück so lang verweilen kann, wie man will, ist großartig. Hier sind nicht nur die Figuren polyphon, jeder sammelt andere Eindrücke.

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