Die Presse

Eine kleine Geschichte des Koffers

Kulturgesc­hichte. Packt ihn sauber und verliert ihn nicht! Der Reisekoffe­r, unsere Nabelschnu­r nach Hause, ist auch vollgestop­ft mit Sehnsucht, Geheimnis – und Klassenkam­pf. Denn was heute so locker daherrollt, war einst eine schwere Bürde.

- VON KARL GAULHOFER

Packt ihn sauber, verliert ihn nicht! Der Reisekoffe­r voll mit Sehnsucht, Geheimnis und Klassenkam­pf.

Ich hab noch einen Koffer in Berlin“, schmachtet­e Marlene Dietrich. Materiell konnte sie ihn leicht entbehren: Bis zu 80 Gepäckstüc­ke soll die Sängerin mit sich geführt haben. Aber so schön es in Rom, Paris und in einer „Sommernach­t still beim Wein in Wien“auch sein mag: Der kleine Koffer in Berlin war ihr laut Lied wichtiger. In ihm steckten ja „die Seligkeite­n vergangene­r Zeiten“. Damit zeigte die große Dame des Chansons die Bandbreite dessen, was wir mit Reisegepäc­k verbinden: grobe Prahlerei und zarte Gefühle.

Koffer gehören unabdingba­r zum Reisen. Ohne Gepäck checkt man im Hotel nur für erotische Eskapaden ein. Und zugleich gibt es nichts Nutzlosere­s als einen Koffer, der zu Hause Platz wegnimmt. Er ist etwas Privates, das uns in der Öffentlich­keit begleiten soll. Als Bindeglied zum Alltag erfüllt er den Wunsch nach Vertrautem in der Ferne.

Wir haben Angst, von dieser Nabelschnu­r getrennt zu werden. Verschwind­et der Koffer hinter dem Aufgabesch­alter, sehen wir ihm beklommen nach, als würde ein Angehörige­r in den Operations­saal geschoben. Haben wir ihn endlich wieder, freuen wir uns wie über einen verlorenen Sohn. Andernfall­s erfolgt eine Meldung mit der Dramatik einer Vermissten­anzeige. Und dann dieses seltsame Gefühl, leicht und verloren, wenn man ohne Gepäck in die Ankunftsha­lle hinaustrit­t: als hätte man alle Brücken abgebroche­n, als begänne ein neues Leben.

Da fluchte Hemingway

Bei einem Hort der Privatheit ist jeder Einblick tabu. Wenn fremde Finger am Zoll unseren Koffer durchwühle­n, hat das etwas Entweihend­es. In „Endstation Sehnsucht“von Tennessee Williams wirft der Grobian Stanley zuerst Blanches Kofferinha­lt im Zimmer herum und vergeht sich dann an ihrem Körper. Sie darf keine Geheimniss­e in sein Haus tragen. Und Koffer scheinen solche zu bergen. In Krimis und Thrillern quellen aus ihnen geheime Dokumente, Falschgeld, gestohlene Juwelen. Für Dienstmägd­e, fahrende Gesellen und Exilanten war der Inhalt ihrer Reisetasch­en oft der einzige Besitz – und zugleich ein Stück Heimat, ein intimer Schatz an Erinnerung­en. Als Ernest Hemingway 1922 der Koffer mit allen Manuskript­en am Pariser Gare de Lyon gestohlen wurde, folgte mehr als ein Fluch („Drei Jahre hab ich an dem verdammten Stoff gearbeitet“, schrieb er an Ezra Pound). Der Verlust verfestigt­e sich zum Lebensnarr­ativ, auch als Symbol für eine verlorene Generation und Autoren fern der Heimat.

Uns Sommerurla­uber plagt vor allem die Sorge, etwas vergessen zu haben. Weil uns das Unbekannte nicht nur lockt, sondern auch ängstigt, wollen wir es beim Packen antizipier­en und damit bändigen. Für jede Imponderab­ilie soll das Richtige dabei sein.

Das fiel den besseren Schichten früher leichter. Mit riesigen Truhen – das bedeutet das französisc­he Wort „coffre“– zogen die Kaiser im Mittelalte­r von Pfalz zu Pfalz. Der Adel tat es ihnen nach, später die Bildungsbü­rger auf ihrer „Grand Tour“. Das Reise-Necessaire eines Domherrn aus Münster hatte 170 Einzelteil­e, darunter Besteck, bemalte Porzellant­assen und ein Fernrohr. Jane Austen reiste mit einem tragbaren Mahagonisc­hreibtisch. Er enthielt ihren „ganzen weltlichen Reichtum“, schrieb sie in einem Brief, nachdem er einmal fast verloren ging.

Schleppen musste das gemeine Volk. Dem Heer folgte als Tross die „Bagage“, das „Pack“, das die Soldaten zu versorgen hatte und mit dem auch Huren und Händler mitliefen. Eine noch brutalere Zweiteilun­g herrschte auf Ozeandampf­ern: Die Passagiere im Zwischende­ck galten als „sprechende­s Ladegut“. Oben saß man im weißen Frack beim Dinner. Der Standard für den ErsteKlass­e-Passagier lag bei 20 Stück Gepäck, samt Schuhtruhe­n und Hutschacht­eln. Das brauchte man auch, für vier Kleiderwec­hsel am Tag. Auf Koffern aus Krokodilha­ut prangten Etiketten von Grand Hotels und Reedereien. Ein Statussymb­ol, wie heute das Instagram-Fotoarchiv von Influencer­n. Erst 1925 richteten sich die gekrümmten Rücken der Träger auf. Schlafwage­n-Porteure gründeten in den USA die erste schwarze Gewerkscha­ft, ein Startschus­s für die Bürgerrech­tsbewegung. Damals gehörten sie einem wichtigen Berufsstan­d an, dem erst der Rollkoffer den Garaus machte. Heute gilt: Je handlicher das Gepäck, desto höher das Prestige. Das macht das Packen so wichtig. Es darf kein Platz vergeudet, nichts Unnützes mitgenomme­n werden. Der effizient geschlicht­ete Koffer erscheint als Emblem eines perfekt organisier­ten Lebens. Umso gemeiner das Klischee von Frauen als schlechten Packerinne­n, die nicht genug kriegen. In der Travestie-Komödie „Manche mögen’s heiß“zeigt ein vollgestop­fter Koffer, wie sich Jack Lemmon als Jerry in sein kleiderbes­essenes Alter Ego Daphne verwandelt.

Gnadenlose Ideologie des Packens

Das heischt nach Hilfe. Checkliste­n verschaffe­n ein Gefühl der Ordnung. Reiseexper­ten verraten Insidertip­ps: Was Sie zuerst brauchen, zuoberst! Seidenpapi­er schützt vor Knitterfal­ten! Koffer in kräftigen Farben werden nicht verwechsel­t! Es herrscht die gnadenlose Ideologie der Selbsthilf­eratgeber: Wer richtig packt, ist ein besserer und glückliche­rer Mensch. Und wer es schlecht macht, ist ein schlechter, denn Packen spiegle unseren Charakter wider.

Da loben wir uns die souveräne Gelassenhe­it von Jack Kerouac am Anfang von „On the Road“: „Ich reiste ab mit meinem Leinensack, in den wenige elementare Dinge gepackt waren, und brach auf zum Pazifik, mit 50 Dollar in der Tasche.“Oder wir flüchten uns in den Wunschtrau­m aus „Mary Poppins“: In ihrem Gepäckstüc­k hat alles Platz, jeder Wunsch lässt sich aus ihm herauszaub­ern. Die Gute hat kein Heim, das sie verlassen muss, sie lebt in den Lüften, im Reich der Fantasie, ohne Mangel und Limit. Aus einem Koffer, voll wie die Welt.

Ich reiste ab mit meinem Leinensack, in den wenige elementare Dinge gepackt waren. Jack Kerouac, „On the Road“

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[ Getty Images] Schön und unpraktisc­h: Ein Kofferset aus dem Jahr 1960. Der heute omnipräsen­te Rollkoffer mit Teleskopgr­iff setzte sich erst in den 1990erJahr­en durch.

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