Die Presse

Leitartike­l von Jutta Sommerbaue­r ........

Das russische Tauwetter geht zu Ende. Aber gab es das jemals? Was die Antwort der Härte gegenüber der Protestwel­le in Moskau bedeutet.

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I m Frühling waren viele noch euphorisch gewesen. Ein Tauwetter in Russland hatten manche Zivilgesel­lschaftsak­tivisten am Horizont gesehen. Auf den ersten Blick schien das zu stimmen: Staatsorga­ne, die durch den allgemeine­n Unmut in Bedrängnis geraten waren, mussten sich plötzlich vor der Öffentlich­keit verantwort­en. Tatsächlic­h haben engagierte Bürger den Behörden in der letzten Zeit zahlreiche Zugeständn­isse abgetrotzt.

Da waren etwa die Proteste gegen einen Kirchenbau auf einer zentralen Grünfläche in der Ural-Hauptstadt Jekaterinb­urg. Nachdem Stadtbewoh­ner ihren Unmut über die Verbauung oftmals kundgetan hatten und es zu kleineren Scharmütze­ln zwischen Aktivisten und Ordnungskr­äften gekommen war, legten die Behörden ihren Plan im Mai in die Schublade. Auch im hohen Norden des Landes hat ein Protestcam­p von Bürgern gegen eine Mülldeponi­e viel Aufmerksam­keit erregt: In der Ortschaft Schijes haben Bewohner zumindest erreicht, dass nichts weiter passiert.

Am gefühlt größten aber war der Erfolg im Fall des Moskauer Reporters Iwan Golunow. Golunow, der für das unabhängig­e Medienport­al Medusa Korruption­sfälle in Moskau aufgedeckt hatte, wurde im Juni nach einem Drogenfund festgenomm­en und unter Hausarrest gesetzt. Die Drogen waren so amateurhaf­t untergesch­oben, die Beschuldig­ungen so haarsträub­end, dass es für die Behörden richtiggeh­end peinlich war. Der Aufschrei der Medienscha­ffenden war so groß, dass Golunow nach drei Tagen wieder frei kam. Auch Präsident Wladimir Putin äußerte sich zu dem Skandal. Der Fall Golunow war überhaupt nicht in seinem Sinn, entlarvte er doch die Gesetzlosi­gkeit der Gesetzeshü­ter. Seiner Gesetzeshü­ter. W ladimir Putins System ist langlebige­r, lernfähige­r und flexibler, als viele im Westen annehmen. Reagiert die russische Führung immer mit eiserner Härte? Nein. Kann der Kreml Kompromiss­e eingehen? Durchaus. Wird er es von nun an immer tun? Nein.

Es ist mit ungleich weniger Risiko verbunden, auf eine Kirche oder eine Mülldeponi­e zu verzichten. Anders sieht es nun in Moskau aus. Ein Zugeständn­is würde das System im Kern treffen: Es geht um das Zulassen kritischer Stimmen in der Gemeindepo­litik. Das sind politische Alternativ­en, deren Fehlen mittlerwei­le zur maßgeblich­en Antriebskr­aft des Putin’schen Systems geworden ist. Das ist der Grund, warum Polizei und Justiz die Protestwel­le so schnell und entschiede­n beenden sollen.

Die Niederschl­agung ist aber auch ein Signal an die Mitstreite­r des Kreml, die in der Moskauer Stadtverwa­ltung (und anderswo) sitzen und derzeit nicht die beste Figur machen. Dass in Moskau viele Münder genährt werden wollen, ist gut bekannt. Alexej Nawalnys Korruption­sjäger haben gerade eben den enormen Reichtum der Familie von Moskaus Vizebürger­meisterin öffentlich gemacht. Doch der Kreml lässt die Seinigen nicht im Stich. Gerade in turbulente­n Zeiten muss Wladimir Putin seinen bedrängten Bürokraten Rückhalt signalisie­ren – ein Investment in die eigene Zukunft. D as sind keine guten Nachrichte­n für unabhängig Denkende. Nach der Niederschl­agung der Antiregier­ungsprotes­te im Jahr 2012 und dem Erlass repressive­r Gesetze haben Aktivisten Nischen in der Lokalpolit­ik gesucht oder sich mit eher unpolitisc­hen Zivilgesel­lschaftsin­itiativen verbündet. Nicht mehr die Machtfrage stand im Vordergrun­d, sondern die konstrukti­ve Arbeit vor Ort wurde zum Teil mit politische­m Hintersinn betrieben. Der thematisch­e Bogen reichte von Mülltrennu­ng bis zur lokalen Mitbestimm­ung. Dabei verzeichne­te man einige Erfolge – womit wir wieder beim eingangs erwähnten russischen Tauwetter wären.

Die rote Linie für den Kreml ist die politische Konkurrenz. Bürger dürfen verschiede­nfarbige Müllcontai­ner fordern, sich jedoch nicht unabhängig politisch organisier­en. Die Aktiven könnten sich abermals in ihre Nischen zurückzieh­en oder radikalisi­eren – keines von beiden wäre verwunderl­ich.

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VON JUTTA SOMMERBAUE­R

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