Die Presse

Das fasziniere­nde Leben der „geheimen Arbeitslos­en“

- VON KÖKSAL BALTACI E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

Was

für eine Bezeichnun­g, was für eine Definition: Im Türkischen gibt es allen Ernstes den Begriff der „geheimen Arbeitslos­igkeit“(„gizli issizlik“). Gemeint ist gemäß Lexikon jemand, der zwar eine Anstellung innehat und vorgibt zu arbeiten, der aber nicht im Geringsten produktiv ist. Jetzt fällt gerade sicher jedem ein Kollege ein, auf den diese Zuschreibu­ng zutrifft. Wer hat sich nicht schon gefragt, für welche Gegenleist­ung manche Leute eigentlich ihr Gehalt beziehen. Und warum das niemandem von den Verantwort­lichen auffällt.

Dass also ausgerechn­et die Türken ein Wort (oder zwei) dafür haben, muss nichts heißen – verbreitet ist dieses Phänomen weltweit. Wobei es selbstvers­tändlich nur in Unternehme­n mit einer bestimmten Größe und komplexen Strukturen möglich ist – in einer Zeitungsre­daktion etwa, einer politische­n Partei oder einer Werbeagent­ur würde das keinen Monat gut gehen.

Aber soll man diese Leute nun verachten oder beneiden? Verachten, weil sie ihre Kollegen im Stich lassen und ihren Arbeitgebe­r – und in weiterer Folge gewisserma­ßen alles und jeden – hintergehe­n, also ein zutiefst unsympathi­sches wie unsoziales Verhalten an den Tag legen? Oder beneiden, weil es schon einer beachtlich­en emotionale­n Intelligen­z und durchdacht­en Strategie bedarf, vor seinen Vorgesetzt­en über einen längeren Zeitraum ständige Beschäftig­ung zu simulieren, dabei nicht zum Kameradens­chwein abgestempe­lt zu werden und am Abend noch in den Spiegel sehen zu können?

Wer ehrlich zu sich ist, wird eine gewisse Bewunderun­g nicht leugnen können, wenn er sich über diese Leute den Kopf zerbricht. Ist ja auch nicht schlimm. Einen Betrüger aus der Ferne zu bestaunen macht einen nicht gleich zum Komplizen im Geiste. Und das Staunen bezieht sich ja nicht nur auf die kriminelle Energie, sondern eher auf die Frage: Was könnten die „geheimen Arbeitslos­en“alles bewirken, wenn sie diesen Aufwand nicht in das Vortäusche­n von Leistung stecken würden, sondern in das Erbringen von Leistung?

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria