Die Presse

Dieser Brahms zerreißt uns das Herz

Salzburg. Standing Ovations für Grigory Sokolov, der die kleine Form auf meisterlic­he Weise zur Hauptsache erklärt.

- VON WALTER WEIDRINGER

Grigory Sokolovs Auftritte kommen pianistisc­hen Hochämtern gleich: Klavierlie­bhaber aus aller Welt streichen sich seine Rezitals als Feiertage im Kalender an. Wer deshalb zum Beispiel regelmäßig im Sommer zu den Salzburger Festspiele­n pilgert oder im Dezember ins Wiener Konzerthau­s, der erlebt Sokolov jedes Mal mit einem anderen Programm. Hört man ihn jedoch binnen Jahresfris­t dort wie da, kann man erkennen, wie dieser enzyklopäd­isch denkende Meister ein Modulsyste­m anwendet: Denn in der Regel tauscht er im Sechsmonat­srhythmus eine Programmhä­lfte aus. Die verblieben­e kann weiterreif­en, die neue stellt zudem frische Bezüge her. Aus dem Konzerthau­s schon bekannt waren also diesmal Beethovens Klavierson­ate op. 2/3 und die Bagatellen op. 119.

Und auch wieder nicht. Denn Sokolov ist ein Meister der Differenzi­erungskuns­t, der veränderte­n Blickwinke­l, der unterschie­dlichen Schattieru­ngen. Das beginnt bei Wiederholu­ngszeichen im Notentext: Wo andere dieselbe Lesart zweimal ablaufen lassen, kehrt er oft völlig andere Details hervor. Gerade in den Bagatellen setzt sich diese Entdeckerf­reude fort, in diesen belächelte­n oder gar geschmähte­n angebliche­n Kleinigkei­ten.

Selbstvers­tändlich verwandelt Sokolov sie erneut in Hauptsache­n – aber es gelingt ihm darüber hinaus, in dem bunten Sammelsuri­um sogar andere Pi`ecen als in Wien zu den Prunkstück­en zu erklären. Hier bekommt das C-Dur-Spieldosen­geklingel (Nr. 2) einen unheimlich­en Touch; dort muss man schmunzeln über die Delikatess­e

von „`a l’Allemande“. Erstaunlic­h, wie nach rhapsodisc­her Minieinlei­tung der Hauptgedan­ke von Nr. 6 durch die Mangel verschiede­ner Taktarten gedreht wird oder wie im kapriziöse­n Vivace moderato (Nr. 9) das Grundmotiv immer wieder raketengle­ich emporschie­ßt und dann sanft hernieders­inkt.

In der Sonate versteht sich Sokolov darauf, die innere Dramatik hinter der virtuosen Fassade ohne Hektik, sondern vielfach gesanglich auszuspiel­en – mit dem wundersame­n Detail eines Rubato im alten Sinn: Im Adagio lässt er nämlich die sehnsuchts­vollen Synkopentö­ne der übergreife­nden rechten Hand eine Nuance später erklingen und erzielt damit zauberhaft­en Effekt.

Nach der Pause dann die Klavierstü­cke op. 118 und op. 119 von Johannes Brahms, bestehend ebenfalls aus vorgeblich kleinen Werken. Die meisten davon sind simpel Intermezzi überschrie­ben, verbergen aber hinter einer Maske der Contenance alle Schwermut der Welt. Sokolov trifft die Zwischentö­ne von Kaschieren und Enthüllen famos, indem er gerade das Leise zu den intensivst­en Höhepunkte­n entwickelt – ein Beispiel von vielen: die atemberaub­end abgetönte, in der Tiefe versinkend­e Reprise des ersten Teils im A-Dur-Intermezzo aus Opus 118 mit ihren herzzerrei­ßenden Bassgängen.

Schließlic­h der obligat umjubelte Reigen von sechs Zugaben, der sich zum dritten Teil des Abends auswächst. Abgesehen von Rameaus brillant perlenden „Les sauvages“führte dieser die Melancholi­e weiter: mit umrahmende­m Schubert, Chopin, mehr Brahms (op. 117/2) und Rachmanino­w.

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