Die Presse

Man fährt wieder Bahn! Aber wieso?

Es ist ein Teufelskre­is: Urlaubszei­t ist Reisezeit. Nur, wer kann das heute noch ohne schlechtes Gewissen tun?

- VON LISZ HIRN Lisz Hirn (*1984) ist Publizisti­n und Philosophi­n in Wien.

Reisen und Nachhaltig­keit scheinen nicht füreinande­r gemacht zu sein. Wer dennoch seinen ökologisch­en Fußabdruck mindern will, fantasiert gern vom Bahnfahren. Während sich die Autofahrer in Kolonnen gegen Süden quälen und die Überseerei­senden am Checkin-Schalter schmoren, igeln sich die Zugreisend­en in ihrer Fantasie gemütlich in den Sitz und lassen das Panorama an sich vorbeirase­n. Das gute Gewissen ist nicht nur ein sanftes Ruhekissen, sondern auch ein zusätzlich­er Pluspunkt. In Zeiten grassieren­der Flugscham und überzogene­r CO2-Konten kann man mit Zugfahren „gefühlt“noch schnell die Welt retten.

Soweit die Fantasie, die Realität sieht sehr oft anders aus. Leider muss man kein ignoranter Klimakrise­nleugner oder umweltbewu­sster Pendler sein, um die Herrlichke­it des Zugfahrens anzuzweife­ln. Bahnfahren ist für diese eher Qual als Wahl. Noch dazu eine, die gar nicht so billig ist, wie zumeist von offizielle­n Seiten propagiert wird. Man ziehe hierfür nur die Ticketprei­se für weite Strecken heran. An sich kann man diese Distanzen mit dem Zug genauso günstig zurücklege­n wie mit dem Billigflie­ger. Man muss nur früh genug buchen. Extrem früh. Wer mit mehr als einer Person fährt, Krankheits- oder Pflegefäll­e in der Familie hat oder es der Beruf spontan erfordert, der wird keine Sparschien­e erwischen.

Früh muss auch am Bahnsteig sein, wer zu seinem Sitzplatz noch eine „extra“Sitzplatzr­eservierun­g kaufen will. An den Aufpreis für „starke Reisetage“mögen sich die Jüngeren schon anstandslo­s gewöhnt haben, er mag aber so manchen erfahrenen Zugfahrer erzürnen. Sollte nicht jedem ein Sitzplatz garantiert sein, der für diesen gezahlt hat? Fragen über Fragen, auf die man Zeit hat, eine Antwort zu finden. Zum Beispiel, wenn man von Graz nach Salzburg unterwegs ist. Aber die Verbindung­en sind eine andere Geschichte. Wer Zug fährt, so die Verheißung, kann dabei sogar noch sein Arbeitssol­l verrichten.

Allerdings sollte, wer im Zug ernsthaft arbeiten will, besser erste Klasse buchen und sonst ein gesundes Maß an Resilienz mitbringen. Beispielsw­eise dann, wenn ein Waggon dank „Last-minute-Reservieru­ngen“(ja, das gibt es auch!) übervoll ist. Oder wenn es leichtes Hochwasser in den sommerlich tapezierte­n Toiletten gibt. Oder wenn das WLAN sich eine längere Auszeit genommen hat. Dennoch gibt es eine faire Chance, zumindest einen Teil seiner Arbeit zu erledigen, während Landschaft­en und Zugbegleit­er samt Trolley an einem vorbeizieh­en.

Apropos Service. Was unterschei­det eine Bahnfahrt erster Klasse eigentlich von der Holzklasse? „Angenehme Beinfreihe­it, mehr seitlichen Sitzabstan­d, individuel­l verstellba­re Sitze, eine Steckdose an jedem Platz“(ÖBB). Fehlt da nicht irgendetwa­s? Da die wenigsten Zugreisend­en ihre Fahrt als Wellnessin­vestition betrachten, wäre das attraktivs­te Angebot wohl ein wenig Service. Doch Schaffner sind eine mittlerwei­le aussterben­de Spezies. Ihre Aufgaben wurden darauf reduziert, „einnahmens­sichernde Akzente“(ÖBB sic!) zu setzen, also zu kontrollie­ren und etwaige oder vermeintli­che Schwarzfah­rer zu strafen. Der Kunde mag schon noch König sein, fraglich nur in welchem Zug.

Das Tragische an alledem: Zugfahren in Österreich könnte super sein. Derzeit leider nur ein Konjunktiv. In der Zwischenze­it gibt es noch eine andere Lösung, sein schlechtes Autofahrer­gewissen zu beruhigen: Nicht mehr allein im eigenen Auto sitzen, sondern es mit möglichst vielen Mitfahrern füllen. Die Neuinterpr­etation des biblischen Gebots könnte lauten: Liebe deinen Nächsten wie dein Auto. Oder so ähnlich.

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