Man fährt wieder Bahn! Aber wieso?
Es ist ein Teufelskreis: Urlaubszeit ist Reisezeit. Nur, wer kann das heute noch ohne schlechtes Gewissen tun?
Reisen und Nachhaltigkeit scheinen nicht füreinander gemacht zu sein. Wer dennoch seinen ökologischen Fußabdruck mindern will, fantasiert gern vom Bahnfahren. Während sich die Autofahrer in Kolonnen gegen Süden quälen und die Überseereisenden am Checkin-Schalter schmoren, igeln sich die Zugreisenden in ihrer Fantasie gemütlich in den Sitz und lassen das Panorama an sich vorbeirasen. Das gute Gewissen ist nicht nur ein sanftes Ruhekissen, sondern auch ein zusätzlicher Pluspunkt. In Zeiten grassierender Flugscham und überzogener CO2-Konten kann man mit Zugfahren „gefühlt“noch schnell die Welt retten.
Soweit die Fantasie, die Realität sieht sehr oft anders aus. Leider muss man kein ignoranter Klimakrisenleugner oder umweltbewusster Pendler sein, um die Herrlichkeit des Zugfahrens anzuzweifeln. Bahnfahren ist für diese eher Qual als Wahl. Noch dazu eine, die gar nicht so billig ist, wie zumeist von offiziellen Seiten propagiert wird. Man ziehe hierfür nur die Ticketpreise für weite Strecken heran. An sich kann man diese Distanzen mit dem Zug genauso günstig zurücklegen wie mit dem Billigflieger. Man muss nur früh genug buchen. Extrem früh. Wer mit mehr als einer Person fährt, Krankheits- oder Pflegefälle in der Familie hat oder es der Beruf spontan erfordert, der wird keine Sparschiene erwischen.
Früh muss auch am Bahnsteig sein, wer zu seinem Sitzplatz noch eine „extra“Sitzplatzreservierung kaufen will. An den Aufpreis für „starke Reisetage“mögen sich die Jüngeren schon anstandslos gewöhnt haben, er mag aber so manchen erfahrenen Zugfahrer erzürnen. Sollte nicht jedem ein Sitzplatz garantiert sein, der für diesen gezahlt hat? Fragen über Fragen, auf die man Zeit hat, eine Antwort zu finden. Zum Beispiel, wenn man von Graz nach Salzburg unterwegs ist. Aber die Verbindungen sind eine andere Geschichte. Wer Zug fährt, so die Verheißung, kann dabei sogar noch sein Arbeitssoll verrichten.
Allerdings sollte, wer im Zug ernsthaft arbeiten will, besser erste Klasse buchen und sonst ein gesundes Maß an Resilienz mitbringen. Beispielsweise dann, wenn ein Waggon dank „Last-minute-Reservierungen“(ja, das gibt es auch!) übervoll ist. Oder wenn es leichtes Hochwasser in den sommerlich tapezierten Toiletten gibt. Oder wenn das WLAN sich eine längere Auszeit genommen hat. Dennoch gibt es eine faire Chance, zumindest einen Teil seiner Arbeit zu erledigen, während Landschaften und Zugbegleiter samt Trolley an einem vorbeiziehen.
Apropos Service. Was unterscheidet eine Bahnfahrt erster Klasse eigentlich von der Holzklasse? „Angenehme Beinfreiheit, mehr seitlichen Sitzabstand, individuell verstellbare Sitze, eine Steckdose an jedem Platz“(ÖBB). Fehlt da nicht irgendetwas? Da die wenigsten Zugreisenden ihre Fahrt als Wellnessinvestition betrachten, wäre das attraktivste Angebot wohl ein wenig Service. Doch Schaffner sind eine mittlerweile aussterbende Spezies. Ihre Aufgaben wurden darauf reduziert, „einnahmenssichernde Akzente“(ÖBB sic!) zu setzen, also zu kontrollieren und etwaige oder vermeintliche Schwarzfahrer zu strafen. Der Kunde mag schon noch König sein, fraglich nur in welchem Zug.
Das Tragische an alledem: Zugfahren in Österreich könnte super sein. Derzeit leider nur ein Konjunktiv. In der Zwischenzeit gibt es noch eine andere Lösung, sein schlechtes Autofahrergewissen zu beruhigen: Nicht mehr allein im eigenen Auto sitzen, sondern es mit möglichst vielen Mitfahrern füllen. Die Neuinterpretation des biblischen Gebots könnte lauten: Liebe deinen Nächsten wie dein Auto. Oder so ähnlich.