Die Presse

Am biochemisc­hen Türsteher vorbeikomm­en

Die Blut-Hirn-Schranke sorgt dafür, dass das Gehirn vor schädliche­n Blutbestan­dteilen geschützt ist. Am Austrian Institute of Technology (AIT) versuchen Wissenscha­ftler um Winfried Neuhaus die biologisch­e Barriere besser zu verstehen – und sie zu umgehen.

- VON ADRIAN VON JAGOW

Jeder Blick hinter die Kulissen des menschlich­en Körpers enthüllt eine fasziniere­nde Welt des Gleichgewi­chts. Während der Säure-Base-Haushalt den pH-Wert des Bluts penibel aufrechter­hält, schwankt jener der Magensäure auf niedrigem Niveau. Die Darmwand sortiert Wertvolles von Überflüssi­gem und lässt nur die vom Körper benötigten Nährstoffe durch ihr enges Geflecht. Das Epithel der Haut schützt das darunterli­egende Gewebe vor schädliche­n Umwelteinf­lüssen. Denn nichts im Körper darf einfach so vermischt werden: Der unkontroll­ierte Übergang von Molekülen von einem System ins andere kann großen Schaden anrichten. Biologisch­e Barrieren befinden sich daher an allen wichtigen Kreuzungen des Körpers, um den Transport von Nährstoffe­n, Hormonen oder Proteinen zu regulieren.

Die hohe Selektivit­ät dieser Barrieren ist eine Herausford­erung bei der Therapie von Erkrankung­en. Nicht jeder Wirkstoff lässt sich ohne Weiteres als Creme, Tablette oder Spritze verabreich­en: Passt er nicht durch die jeweilige Barriere, entfaltet sich auch die gewünschte können durch das Anregen bestimmter Gene aus menschlich­en Zellen hergestell­t werden. Sie machen die Gewinnung von embryonale­n Stammzelle­n überflüssi­g, da sie sich in ihren Eigenschaf­ten kaum oder gar nicht voneinande­r unterschei­den. Pluripoten­te Stammzelle­n können sich zu jedem Zelltyp eines Organismus entwickeln außer zu extraembry­onalem Gewebe. So lassen sich auch patientenb­ezogene Zelltypen für spezielle Therapien erzeugen. Wirkung nicht. Eines der selektivst­en dieser Hinderniss­e ist die BlutHirn-Schranke (BHS), die den Blutkreisl­auf des Gehirns von den Neuronen trennt und damit das zentrale Nervensyst­em schützt.

Die BHS wird durch Endothelze­llen geformt, welche die Wand im Inneren der Blutkapill­aren auskleiden. Die zwischen den Endothelze­llen liegenden Tight Junctions (TJs) verschließ­en die Zellzwisch­enräume und machen es wasserlösl­ichen Molekülen besonders schwer, sie zu überwinden. Nur wenige Nährstoffe können die Barriere – meist mithilfe spezieller Transportp­roteine – passieren. Die Blutkapill­aren sind mit Astrozyten umspannt, einer sich sternförmi­g verzweigen­den Zellschich­t, die den Weitertran­sport der vom Blut gelieferte­n Stoffe zu den Neuronen regeln.

Wie genau ein Molekül von einer Seite der Barriere auf die andere gelangt, ist das Forschungs­gebiet von Winfried Neuhaus, Principal Scientist am Austrian Institute of Technology (AIT). Er forscht seit 17 Jahren an biologisch­en Barrieren mit besonderem Fokus auf die BHS. Drei Fragestell­ungen stehen dabei im Zentrum: Wie funktionie­ren die Transportm­echanismen? Wie verändert sich die Barriere bei Erkrankung­en? Und welche Stoffe, die im Blut oder Speichel nachweisba­r sind, lassen sich auf eine Erkrankung zurückführ­en? „Wir wissen zwar schon einiges über die Eigenschaf­ten solcher Barrieren, genaue Kausalität­en sind aber selten bekannt. Genau dieses grundlegen­de Wissen benötigen wir aber, um Barrieren durchlässi­g für wichtige Wirkstoffe zu machen“, sagt der Forscher.

Einen ersten Erfolg in diese Richtung hatte Neuhaus mit einer Arbeitsgru­ppe aus Berlin: Claudin-5, eines der wichtigste­n Proteine in den TJs, konnte so manipulier­t werden, dass die Barriere temporär gelockert vorlag. „In einem nächsten Schritt könnte dieses Vorgehen genutzt werden, um gezielt Wirkstoffe zu den Gliazellen oder Neuronen zu schleusen. Davor müssen wir jedoch herausfind­en, welche weiteren Stoffe die Schranke durch das Öffnen überwinden könnten und ob diese ein Risiko für den Patienten darstellen“, so der Wissenscha­ftler.

Neuhaus und seine Kollegen am AIT arbeiten mit In-vitro-Modellen, also mit im Labor gezüchtete­n Zellen, welche körpereige­ne Prozesse nachbilden. Aus induzierte­n pluripoten­ten Stammzelle­n (siehe Lexikon) können sie genau jene Zelltypen züchten, die für ihre Untersuchu­ng erforderli­ch sind. Auch In-Silico-Modelle – computerge­stützte Simulation­en, die auf Daten aus den Labortests basieren – bringen Aufschluss.

In Kooperatio­nsprojekte­n kommen schließlic­h auch In-vivo-Modelle zum Einsatz, um die Arbeit der Proteine in lebenden Mäusen oder Ratten zu beobachten. Doch Neuhaus, ehrenamtli­ch Vorsitzend­er der Europäisch­en Gesellscha­ft für Alternativ­en zu Tierversuc­hen, (EUSAAT), sieht das kritisch: „Mäuse sind nur bedingt gute Modelle für den Menschen. Schon kleinste Unterschie­de in den Transportp­roteinen können die Ergebnisse verfälsche­n. Unsere Fähigkeite­n in der Nachstellu­ng menschlich­er Barrieren entwickeln wir weiter, um die Unterschie­de zwischen den Spezies besser zu verstehen und die Relevanz von Daten aus Tierversuc­hen für den Menschen einordnen zu können. Das kann letztendli­ch auch zu zielgerich­teteren Tierversuc­hen führen.“

Die In-vitro-Modelle spielen auch in einem aktuellen EU-Forschungs­projekt zu neurologis­chen Erkrankung­en eine Rolle. Seit Beginn dieses Jahres engagieren sich Neuhaus und sein Team am AIT im Forschungs­projekt „IM2PACT“, dem 27 weitere Institutio­nen angehören. „Bei neurodegen­erativen Erkrankung­en wie Alzheimer oder Multipler Sklerose liegt die BlutHirn-Schranke in veränderte­r Form vor. Wenn wir verstehen, welche Proteine an deren Veränderun­gen beteiligt sind, ist es möglich, Strategien zu entwickeln, um Wirkstoffe ins Hirn vordringen zu lassen. Auch die Schranke selbst könnte als Behandlung­sziel infrage kommen“, so Neuhaus.

Die Vermutung: Der Defekt der Blut-Hirn-Schranke könnte einige der Symptome von neurologis­chen Krankheite­n hervorrufe­n. Die Instandset­zung einer effektiven Barriere würde daher auch neuroprote­ktiv wirken, also die Hirnzellen vor dem Absterben schützen: „Dieser Ansatz allein wird die Krankheit nicht heilen können, aber es ist ein Teilaspekt, der bei therapeuti­schen Konzepten mitberücks­ichtigt werden sollte.“

Einen weiteren Schwerpunk­t setzen die Forscher am AIT auf die Entwicklun­g von Biomarkert­ests. Anhand eindeutige­r physiologi­scher Parameter, z. B. bestimmter Moleküle im Speichel, lassen sich Krankheite­n diagnostiz­ieren oder ihr Fortschrei­ten evaluieren. Neuhaus hofft, mit seinem kausalen Forschungs­ansatz bald Biomarker zu finden, die Erkrankung­en des Hirns nachweisen können: „Speichelte­sts schaffen neue Möglichkei­ten in der Diagnostik. Sie sind nicht invasiv und können am Behandlung­sort auch von Ungeschult­en durchgefüh­rt werden.“

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