Am biochemischen Türsteher vorbeikommen
Die Blut-Hirn-Schranke sorgt dafür, dass das Gehirn vor schädlichen Blutbestandteilen geschützt ist. Am Austrian Institute of Technology (AIT) versuchen Wissenschaftler um Winfried Neuhaus die biologische Barriere besser zu verstehen – und sie zu umgehen.
Jeder Blick hinter die Kulissen des menschlichen Körpers enthüllt eine faszinierende Welt des Gleichgewichts. Während der Säure-Base-Haushalt den pH-Wert des Bluts penibel aufrechterhält, schwankt jener der Magensäure auf niedrigem Niveau. Die Darmwand sortiert Wertvolles von Überflüssigem und lässt nur die vom Körper benötigten Nährstoffe durch ihr enges Geflecht. Das Epithel der Haut schützt das darunterliegende Gewebe vor schädlichen Umwelteinflüssen. Denn nichts im Körper darf einfach so vermischt werden: Der unkontrollierte Übergang von Molekülen von einem System ins andere kann großen Schaden anrichten. Biologische Barrieren befinden sich daher an allen wichtigen Kreuzungen des Körpers, um den Transport von Nährstoffen, Hormonen oder Proteinen zu regulieren.
Die hohe Selektivität dieser Barrieren ist eine Herausforderung bei der Therapie von Erkrankungen. Nicht jeder Wirkstoff lässt sich ohne Weiteres als Creme, Tablette oder Spritze verabreichen: Passt er nicht durch die jeweilige Barriere, entfaltet sich auch die gewünschte können durch das Anregen bestimmter Gene aus menschlichen Zellen hergestellt werden. Sie machen die Gewinnung von embryonalen Stammzellen überflüssig, da sie sich in ihren Eigenschaften kaum oder gar nicht voneinander unterscheiden. Pluripotente Stammzellen können sich zu jedem Zelltyp eines Organismus entwickeln außer zu extraembryonalem Gewebe. So lassen sich auch patientenbezogene Zelltypen für spezielle Therapien erzeugen. Wirkung nicht. Eines der selektivsten dieser Hindernisse ist die BlutHirn-Schranke (BHS), die den Blutkreislauf des Gehirns von den Neuronen trennt und damit das zentrale Nervensystem schützt.
Die BHS wird durch Endothelzellen geformt, welche die Wand im Inneren der Blutkapillaren auskleiden. Die zwischen den Endothelzellen liegenden Tight Junctions (TJs) verschließen die Zellzwischenräume und machen es wasserlöslichen Molekülen besonders schwer, sie zu überwinden. Nur wenige Nährstoffe können die Barriere – meist mithilfe spezieller Transportproteine – passieren. Die Blutkapillaren sind mit Astrozyten umspannt, einer sich sternförmig verzweigenden Zellschicht, die den Weitertransport der vom Blut gelieferten Stoffe zu den Neuronen regeln.
Wie genau ein Molekül von einer Seite der Barriere auf die andere gelangt, ist das Forschungsgebiet von Winfried Neuhaus, Principal Scientist am Austrian Institute of Technology (AIT). Er forscht seit 17 Jahren an biologischen Barrieren mit besonderem Fokus auf die BHS. Drei Fragestellungen stehen dabei im Zentrum: Wie funktionieren die Transportmechanismen? Wie verändert sich die Barriere bei Erkrankungen? Und welche Stoffe, die im Blut oder Speichel nachweisbar sind, lassen sich auf eine Erkrankung zurückführen? „Wir wissen zwar schon einiges über die Eigenschaften solcher Barrieren, genaue Kausalitäten sind aber selten bekannt. Genau dieses grundlegende Wissen benötigen wir aber, um Barrieren durchlässig für wichtige Wirkstoffe zu machen“, sagt der Forscher.
Einen ersten Erfolg in diese Richtung hatte Neuhaus mit einer Arbeitsgruppe aus Berlin: Claudin-5, eines der wichtigsten Proteine in den TJs, konnte so manipuliert werden, dass die Barriere temporär gelockert vorlag. „In einem nächsten Schritt könnte dieses Vorgehen genutzt werden, um gezielt Wirkstoffe zu den Gliazellen oder Neuronen zu schleusen. Davor müssen wir jedoch herausfinden, welche weiteren Stoffe die Schranke durch das Öffnen überwinden könnten und ob diese ein Risiko für den Patienten darstellen“, so der Wissenschaftler.
Neuhaus und seine Kollegen am AIT arbeiten mit In-vitro-Modellen, also mit im Labor gezüchteten Zellen, welche körpereigene Prozesse nachbilden. Aus induzierten pluripotenten Stammzellen (siehe Lexikon) können sie genau jene Zelltypen züchten, die für ihre Untersuchung erforderlich sind. Auch In-Silico-Modelle – computergestützte Simulationen, die auf Daten aus den Labortests basieren – bringen Aufschluss.
In Kooperationsprojekten kommen schließlich auch In-vivo-Modelle zum Einsatz, um die Arbeit der Proteine in lebenden Mäusen oder Ratten zu beobachten. Doch Neuhaus, ehrenamtlich Vorsitzender der Europäischen Gesellschaft für Alternativen zu Tierversuchen, (EUSAAT), sieht das kritisch: „Mäuse sind nur bedingt gute Modelle für den Menschen. Schon kleinste Unterschiede in den Transportproteinen können die Ergebnisse verfälschen. Unsere Fähigkeiten in der Nachstellung menschlicher Barrieren entwickeln wir weiter, um die Unterschiede zwischen den Spezies besser zu verstehen und die Relevanz von Daten aus Tierversuchen für den Menschen einordnen zu können. Das kann letztendlich auch zu zielgerichteteren Tierversuchen führen.“
Die In-vitro-Modelle spielen auch in einem aktuellen EU-Forschungsprojekt zu neurologischen Erkrankungen eine Rolle. Seit Beginn dieses Jahres engagieren sich Neuhaus und sein Team am AIT im Forschungsprojekt „IM2PACT“, dem 27 weitere Institutionen angehören. „Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Multipler Sklerose liegt die BlutHirn-Schranke in veränderter Form vor. Wenn wir verstehen, welche Proteine an deren Veränderungen beteiligt sind, ist es möglich, Strategien zu entwickeln, um Wirkstoffe ins Hirn vordringen zu lassen. Auch die Schranke selbst könnte als Behandlungsziel infrage kommen“, so Neuhaus.
Die Vermutung: Der Defekt der Blut-Hirn-Schranke könnte einige der Symptome von neurologischen Krankheiten hervorrufen. Die Instandsetzung einer effektiven Barriere würde daher auch neuroprotektiv wirken, also die Hirnzellen vor dem Absterben schützen: „Dieser Ansatz allein wird die Krankheit nicht heilen können, aber es ist ein Teilaspekt, der bei therapeutischen Konzepten mitberücksichtigt werden sollte.“
Einen weiteren Schwerpunkt setzen die Forscher am AIT auf die Entwicklung von Biomarkertests. Anhand eindeutiger physiologischer Parameter, z. B. bestimmter Moleküle im Speichel, lassen sich Krankheiten diagnostizieren oder ihr Fortschreiten evaluieren. Neuhaus hofft, mit seinem kausalen Forschungsansatz bald Biomarker zu finden, die Erkrankungen des Hirns nachweisen können: „Speicheltests schaffen neue Möglichkeiten in der Diagnostik. Sie sind nicht invasiv und können am Behandlungsort auch von Ungeschulten durchgeführt werden.“