Liebe unter der Uralbrücke
Expedition Europa: Magnitogorsk bei Nacht und ein Grab in den Abruzzen.
Ich gehe bei Nacht von Asien nach Europa. Im russischen Magnitogorsk, auf der Brücke über den Uralfluss, hält man die Kontinente leicht auseinander: Asien, das ist das dröhnende Stahlkombinat mit seinen Stichflammen. Europa, das ist Stalins Arbeiter-Palast-Stadt mit seinen Triumphbögen. An der Flussmitte weist nichts auf das Betreten Europas hin; nur in Richtung Asien hängt ein Schild, auf dem „Europa“durchgestrichen ist, einmal in kyrillischer und einmal in lateinischer Schrift.
In der Flussmitte erstreckt sich eine schmale Insel. Ich höre von dort unten ein Platschen und ein Kurbeln, und ich sehe dort unten ein ausgehendes Feuerchen und zwei kleine grüne Lichter, die ich mir als Stirnlampen zweier hektisch hantierender Personen auslege. Wollen sie campen, fischen, auf der Kontinentalgrenze Liebe machen? Der Vollmond scheint, mein langer Schatten fällt auf die zwei Gestalten, und ich fürchte plötzlich, dass sie mich fürchten und deswegen auf mich schießen könnten, bevor ich auf sie schieße. Ich gehe lieber weiter.
So betrete ich Europa. Ich setze mich in das erstbeste Cafe.´ Es trägt „Pride“im Namen. Es ist mit dunklem Holz und rotgoldenen Stühlen eingerichtet und hat erst einige Wochen auf. Dutzende Kaffeekreationen werden angeboten, Alkohol grundsätzlich nicht. Der durchtrainierte Cafetier trägt einen eng anliegenden schwarzen Anzug und eine hellrote Krawatte mit goldener Krawattennadel. Er bewegt sich zeremoniell, höfisch, geziert. Das muss einem erst einmal einfallen: Ich komme über die Uralbrücke nach Europa, das in Russland als „Gayropa“verspottet wird. Und was springt mich als Erstes an? Ein Schwulencafe.´
Pionier der Homosexuellen-Ehe
Ich gehe bei Nacht durch L’Aquila. Das „Salzburg der Abruzzen“, in einem dramatisch aufragenden Hochgebirge gelegen, wurde 2009 von einem Erdbeben erschüttert. Ich will sehen, was mit den elf Milliarden Euro geschah, welche die italienische Regierung für den Wiederaufbau versprach. Und dann will ich sehen, was nach dem Erdbeben vom Grab des Karl Heinrich Ulrichs blieb. Dieser Ostfriese, der 1895 in L’Aquila starb, war wohl der Erste, der öffentlich die Einführung der Ehe zwischen zwei Männern forderte. Sein Grab gilt als Pilgerort der Homosexuellenbewegung.
Ich gehe durch die Altstadt. Dass sieben der elf Milliarden ausgegeben wurden, ist zu sehen. Es riecht nach frischer Farbe und feuchtem Stein. Nur lebt hier niemand, niemand ist zurückgekehrt, viele neu eröffnete Geschäfte sind schon wieder geschlossen. Jugendliche suchen das einst legendäre Nachtleben nachzuspielen, aber das sind Inseln des Lebens in einer toten Kopie. Ich komme ins Zweifeln. Wie viel Gutes hätte man mit sieben Milliarden tun können?
Am Vormittag gehe ich auf den städtischen Friedhof. Um nicht mit leeren Händen zu kommen, kaufe ich am Eingang eine Nelke. Ich frage den Floristen nach Ulrichs’ Grab. Er schaut verdutzt, dann fragt er: „Il gay tedesco?“– „Si!“Er beschreibt mir den Weg. Auf dem Friedhof dominieren haushohe Grabkapellen der Bourgeoisie, an ihnen ist kein Sprung zu sehen. Dass hier ein Erdbeben war, glaubt man auf dem Friedhof nicht.
Das Grab des Mannes, der im 19. Jahrhundert die Homo-Ehe erdachte, hat nichts von einem Pilgerort. Ulrichs’ Vision ist im Westen zwar siegreich, aber sein Grab, das sind nur ausgebleichte Plastikblumen, ein knöchelhohes Denkmal von Betonstrahlen ohne Text und eine liegende Grabplatte mit Text auf Latein. Ulrichs’ Grab ist offenbar das einzige das vom Erdbeben beschädigt wur