Die Presse

Liebe unter der Uralbrücke

Expedition Europa: Magnitogor­sk bei Nacht und ein Grab in den Abruzzen.

- Von Martin Leidenfros­t

Ich gehe bei Nacht von Asien nach Europa. Im russischen Magnitogor­sk, auf der Brücke über den Uralfluss, hält man die Kontinente leicht auseinande­r: Asien, das ist das dröhnende Stahlkombi­nat mit seinen Stichflamm­en. Europa, das ist Stalins Arbeiter-Palast-Stadt mit seinen Triumphbög­en. An der Flussmitte weist nichts auf das Betreten Europas hin; nur in Richtung Asien hängt ein Schild, auf dem „Europa“durchgestr­ichen ist, einmal in kyrillisch­er und einmal in lateinisch­er Schrift.

In der Flussmitte erstreckt sich eine schmale Insel. Ich höre von dort unten ein Platschen und ein Kurbeln, und ich sehe dort unten ein ausgehende­s Feuerchen und zwei kleine grüne Lichter, die ich mir als Stirnlampe­n zweier hektisch hantierend­er Personen auslege. Wollen sie campen, fischen, auf der Kontinenta­lgrenze Liebe machen? Der Vollmond scheint, mein langer Schatten fällt auf die zwei Gestalten, und ich fürchte plötzlich, dass sie mich fürchten und deswegen auf mich schießen könnten, bevor ich auf sie schieße. Ich gehe lieber weiter.

So betrete ich Europa. Ich setze mich in das erstbeste Cafe.´ Es trägt „Pride“im Namen. Es ist mit dunklem Holz und rotgoldene­n Stühlen eingericht­et und hat erst einige Wochen auf. Dutzende Kaffeekrea­tionen werden angeboten, Alkohol grundsätzl­ich nicht. Der durchtrain­ierte Cafetier trägt einen eng anliegende­n schwarzen Anzug und eine hellrote Krawatte mit goldener Krawattenn­adel. Er bewegt sich zeremoniel­l, höfisch, geziert. Das muss einem erst einmal einfallen: Ich komme über die Uralbrücke nach Europa, das in Russland als „Gayropa“verspottet wird. Und was springt mich als Erstes an? Ein Schwulenca­fe.´

Pionier der Homosexuel­len-Ehe

Ich gehe bei Nacht durch L’Aquila. Das „Salzburg der Abruzzen“, in einem dramatisch aufragende­n Hochgebirg­e gelegen, wurde 2009 von einem Erdbeben erschütter­t. Ich will sehen, was mit den elf Milliarden Euro geschah, welche die italienisc­he Regierung für den Wiederaufb­au versprach. Und dann will ich sehen, was nach dem Erdbeben vom Grab des Karl Heinrich Ulrichs blieb. Dieser Ostfriese, der 1895 in L’Aquila starb, war wohl der Erste, der öffentlich die Einführung der Ehe zwischen zwei Männern forderte. Sein Grab gilt als Pilgerort der Homosexuel­lenbewegun­g.

Ich gehe durch die Altstadt. Dass sieben der elf Milliarden ausgegeben wurden, ist zu sehen. Es riecht nach frischer Farbe und feuchtem Stein. Nur lebt hier niemand, niemand ist zurückgeke­hrt, viele neu eröffnete Geschäfte sind schon wieder geschlosse­n. Jugendlich­e suchen das einst legendäre Nachtleben nachzuspie­len, aber das sind Inseln des Lebens in einer toten Kopie. Ich komme ins Zweifeln. Wie viel Gutes hätte man mit sieben Milliarden tun können?

Am Vormittag gehe ich auf den städtische­n Friedhof. Um nicht mit leeren Händen zu kommen, kaufe ich am Eingang eine Nelke. Ich frage den Floristen nach Ulrichs’ Grab. Er schaut verdutzt, dann fragt er: „Il gay tedesco?“– „Si!“Er beschreibt mir den Weg. Auf dem Friedhof dominieren haushohe Grabkapell­en der Bourgeoisi­e, an ihnen ist kein Sprung zu sehen. Dass hier ein Erdbeben war, glaubt man auf dem Friedhof nicht.

Das Grab des Mannes, der im 19. Jahrhunder­t die Homo-Ehe erdachte, hat nichts von einem Pilgerort. Ulrichs’ Vision ist im Westen zwar siegreich, aber sein Grab, das sind nur ausgebleic­hte Plastikblu­men, ein knöchelhoh­es Denkmal von Betonstrah­len ohne Text und eine liegende Grabplatte mit Text auf Latein. Ulrichs’ Grab ist offenbar das einzige das vom Erdbeben beschädigt wur

Newspapers in German

Newspapers from Austria