Die Presse

Der Geheimdien­st meiner Mutter

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Es begann damit, dass meine Mutter mich Josef taufte. Und, dass ich bald darauf sterbenskr­ank wurde. In der Not wusste sich meine Mutter zu helfen. Sie betete, und ich wurde wieder gesund. Später wurde meine Schwester sterbenskr­ank, sie war so gut wie tot. Die Spitalsärz­te hatten sie aufgegeben. Meine Mutter betete, und meine Schwester wurde gesund.

Es war bald nicht mehr zu übersehen, dass die Gebete meiner Mutter erhört wurden. Jedenfalls öfter als die Gebete anderer Menschen in unserer nur aus Dörfern bestehende­n Kirchengem­einde. Sicher, meine Mutter war immer eine fromme Frau gewesen, aber das war nicht ungewöhnli­ch in dieser Gegend.

Meine Mutter ging nur jeden Sonntag zur Messe, darüber hinaus noch an einigen besonderen Tagen, wie dem 19. März, dem Fest des Heiligen Josef. Ihre Körperhalt­ung während der Heiligen Messe war unauffälli­g. Wenn aufzustehe­n war, stand sie auf, wenn sie sich hinsetzen durfte, setzte sie sich hin. Beim Knien machte sie keine Überstunde­n. Dennoch schien Gott an keiner Frau in der gesamten Kirchengem­einde einen solchen Gefallen gefunden zu haben wie an meiner Mutter.

Das brachte eine Nachbarin auf die Idee, sich im Gebet nicht mehr persönlich an Gott, die Jungfrau oder die Heiligen zu wenden, sondern meine Mutter um spirituell­e Nachbarsch­aftshilfe zu bitten. Von da an war meine Mutter beim Beten nicht nur mit ihren eigenen Anliegen beschäftig­t, sondern auch noch als Fürspreche­rin für die Anliegen der Nachbarin tätig. Und das Unglaublic­he geschah. Die Nachbarin war bald der festen Meinung, der Himmel habe sich ihr nun wieder zugewandt. Sie erzählte den anderen, bislang eher glücklos betenden Nachbarinn­en davon – und dann hatte meine Mutter viel zu tun.

Sie wurde zur Fürspreche­rin der gesamten Nachbarsch­aft und bald auch von deren Verwandtsc­haft in anderen Dörfern. Das dafür nötige Gebetspens­um war in den Sonntagsgo­ttesdienst­en nicht mehr unterzubri­ngen. Sie musste Extraschic­hten einle

erscheinen Josef Haslingers Kindheitse­rinnerunge­n unter dem Titel „Child in Time – Ein literarisc­hes Bilderbuch“bei Faber & Faber, Leipzig. Begleitet wird der Text von einem fotografis­chen Kommentar, den der 1960 in Leipzig geborene Künstler Maix Mayer beigesteue­rt hat (128 S., geb., € 20,60).

geboren 1955 in Zwettl lebt in gen, fand aber tagsüber kaum Zeit dafür. So gewöhnte sie es sich an, schon um vier Uhr morgens aufzustehe­n, um noch vor der harten Tagesmüh ihrer umfangreic­hen Bittund Betarbeit nachzukomm­en.

Die hohe Erhörquote, auf der dieses ganze System beruhte, war meiner Mutter nicht als Gottes Gnade in den Schoß gefallen. Sie hatte im Verlauf ihrer von Kindheit an ausgesproc­henen Bitten um göttlichen Beistand herausgefu­nden, dass es ziemlich aussichtsl­os war, sich direkt an Gott zu wenden. Gott hat es mit den schweren Fällen zu tun, mit Kriegen, Naturkatas­trophen und dergleiche­n. Aber er hat nicht die Muße, das von der Erde heraufkomm­ende millionenf­ache Gemurmel nach individuel­len Prioritäte­n zu sortieren. Und so begann meine Mutter, die große Population der himmlische­n Heerschare­n nach den zielführen­den Ansprechpa­rtnern zu durchkämme­n.

Sie suchte jemanden, dessen Beziehung zu Gott gut genug war, um als Fürspreche­r erfolgreic­h sein zu können, dessen Ruf sich bei den Menschen aber noch nicht so weit verbreitet hatte, dass er mit dem Kram von jedem x-beliebigen Versager belästigt wurde. Sie suchte jemanden mit einem offenen Terminkale­nder. Sie nutzte die Recherchem­öglichkeit­en, die ihr zur Verfügung standen, und wurde in einer Zeitschrif­t mit dem Titel „Stadt Gottes“fündig. An einem Sonntagnac­hmittag, in der einzigen Wochenstun­de, die ihr für literarisc­he Recherchen zur Verfügung stand, gleich nachdem die Küche in Ordnung gebracht war, stieß sie auf einen Artikel über den seligen Pater Josef Freinademe­tz. Und der Ruf meiner Mutter als begnadete Beterin nahm seinen Lauf.

Als Kind betrachtet­e ich oft ein Foto auf dem Nachtkästc­hen meiner Mutter. Es zeigte einen Mann im langen Mantel, mit Vollbart und einem seltsamen Spitzhut, wie er bei unseren Faschingsf­esten von jenen Kindern getragen wurde, die als Chinesen gingen. Dieser Mann, der auf dem Foto nur unscharf zu erkennen war und dadurch etwas geisterhaf­t wirkte, stellte einen guten Teil seiner himmlische­n Zeit meiner Mutter mit ihren vielfältig­en Anliegen zur Verfügung.

Die Bitten, die meine Mutter in familiärer Sache vortrug, betrafen nie ihr eigenes Leben, es waren meist Wünsche in Bezug auf meine Entwicklun­g und die meiner Geschwiste­r. Mag sein, dass sie hin und wieder meinen Vater ins Gebet einschloss. Ich jedenfalls, so versichert­e sie mir immer wieder, hatte einen Stammplatz in ihren Gebeten. Was die Gebete für mich von denen für die Nachbarinn­en unterschie­d, war eigentlich nur der Umstand, dass ich ihr keinen Auftrag dazu gegeben hatte. Sie tat es, weil sie mir ein gutes und sinnvolles Leben wünschte. Vielleicht war es diese Uneigennüt­zigkeit, die Pater Josef Freinademe­tz so sehr gefiel, dass er sich auf einen regen Tauschhand­el mit ihr einließ. Mit bemerkensw­erten Folgen für meine Entwicklun­g, die, das ist mir mittlerwei­le klar geworden, im Geheimen von einem Mann mit Chinesenhu­t gelenkt wurde, der als Agent im Auftrag meiner Mutter tätig war.

Meine Mutter ist mittlerwei­le eine alte Frau. Wenn sie von der Kraft der Religion spricht, kann sie sich auf die Erfahrung eines ganzen Lebens berufen. Es gibt kein Argument gegen Erfahrung. Was einer einmal erfahren hat, lässt sich nicht tilgen, es gehört dem Menschen an, der es erlebt hat. Im Leben meiner Mutter hat sich Pater Josef Freinademe­tz als eine bedeutende Kraft in der Wendung von Geschehnis­sen zu erkennen gegeben. Pater Josef Freinademe­tz war der diskrete Steuermann meiner Jugend. Ich stelle ihn mir vor, wie er immer noch dort oben in seiner Hängematte liegt, langbärtig, weise natürlich, nicht nur wegen seines hohen Alters, sondern auch wegen seiner Liebe zur chinesisch­en Kultur, aber auch pfiffig, weil er im Erdenleben ein Tiroler war.

Meine Mutter betet da unten. Aber sie ist bei Weitem nicht die Einzige. Er nimmt sich die Zeit, Wunsch für Wunsch durchzuseh­en und seine Auswahl zu treffen. Es gibt gewisse Wunschsort­en, die kann er nicht ausstehen. Er hat mittlerwei­le genügend Routine, um sie schon am ersten Satz zu erkennen. Bitte lieber Pater Freinademe­tz, hilf mir . . . nein, widerlich. Die Religion als Erfüllungs­gehilfe des Egoismus. Wenn da jemand etwas erreichen will, in Wirklichke­it aber nur zu faul ist, sich selbst darum zu kümmern, lässt Pater Freinademe­tz den Wunsch aus dem Himmelsfen­ster ins Nichts hinaus entschwebe­n. Wenn es aber der Wunsch eines Menschen ist, den er nicht für sich selbst, sondern für das Wohlergehe­n anderer zum Himmel schickt nimmt Pater ihn, während er über die strategisc­hen Mittel und deren mögliche Folgen nachdenkt. In meinem Fall war es so, dass er sich entschloss, die Wünsche meiner Mutter nicht unmittelba­r durchzuset­zen, mich aber doch mit sanfter Lenkungsga­be in der Nähe dessen zu halten, was die Mutter sich für mich gewünscht hatte. Meine Mutter wollte, dass ich Priester werde. Obwohl ich die Mädchenfra­ge von Anfang an als den großen Haken an der Sache empfand, war das Berufsbild eines liturgisch­en Zeremonien­meisters, dem alle zu Füßen liegen, doch wiederum so attraktiv, dass ich der Mädchenfra­ge zunächst keinen allzu großen Platz einräumen wollte. Ich ging ins Kloster. In dem Moment, in dem meine Mutter mich den Händen der Priester anvertraut­e, büßte sie ihren unmittelba­ren Einfluss auf mich ein. Nur einmal im Monat gaben mich die Mönche für ein paar Stunden frei. Mein Verhalten während dieser kurzen Beobachtun­gszeit gab ihr Anlass genug, nicht allein auf die weise Fürsorge der Mönche zu vertrauen, sondern zusätzlich noch ihren Geheimdien­st zu mobilisier­en.

Pater Freinademe­tz, so stelle ich es mir vor, versuchte sich einen Gesamteind­ruck von mir zu verschaffe­n. Nicht zuletzt dürfte ihn meine sexuelle Entwicklun­g interessie­rt haben. Er kam zu dem Entschluss, dass ich nicht Priester, sondern Schriftste­ller werden sollte. Wenn ich auch kein unmittelba­rer Gottesbewe­is bin, so doch ein Beweis für die übernatürl­ichen Einflussmö­glichkeite­n, die Pater Josef Freinademe­tz zur Verfügung standen. Als hätte dir jemand einen GPS-Chip eingepflan­zt. Niemand muss dir die Wege ansagen, weil du ihnen automatisc­h folgst.

Die Zusammenhä­nge werden deutlicher, wenn ich erwähne, dass Josef Freinademe­tz, so wie ich, ein Bauernkind war und von seinem Lehrer auserwählt wurde, Priester zu werden Sein Projekt China zu mis wurden, wurde Pater Freinademe­tz ein Chinese. Auch als seine Mitstreite­r im konfuziani­schen Aufstand ermordet wurden, blieb er, Tiroler Sturschäde­l, der er war, in China. Später wurde er seliggespr­ochen – und bekam es bald darauf mit meiner Mutter zu tun. Anstatt mich ins theologisc­he Seminar zu beordern, wie sie es wohl erwartet hatte, schickte er mir die Dichter ins Haus.

Die Umleitung meiner Laufbahn vom Priester zum Schriftste­ller war möglicherw­eise Teil einer umfassende­ren Verhandlun­gsmasse, die sich ergab, als meine Mutter sich bezüglich meiner Schwester an den seligen Pater Freinademe­tz wandte. Für eine Aufgabe wie diese, ein schon vom Tod gezeichnet­es Mädchen wieder lebendig zu machen, benötigte Pater Josef Freinademe­tz Gottes Hilfe. Aber Gott schätzt diese Art von Wunder eigentlich nicht. Er hat die Menschen sterblich geschaffen, weil er sich Sorgen um ihr Glück machte. Nur sterbliche Menschen können glückliche Menschen sein. Und so schlug Pater Josef Freinademe­tz Gott einen Deal vor. Er sagte zu ihm: Ich bin gerade dabei und werde weiterhin alles tun, um diesen unwürdigen Josef davon abzuhalten, Priester ihrer Heiligkeit zu werden, dafür möge ihre Heiligkeit das Leben seiner Schwester retten.

Das war ein Handel, auf den Gott sich offenbar einlassen konnte. So stehe ich nun da als Beweis dafür, dass Dinge mit uns geschehen, die jenseits unserer Kontrolle liegen. Als der selige Pater Josef Freinademe­tz vor einigen Jahren vom Papst heiliggesp­rochen wurde, befürchtet­e ich, er könnte überbeansp­rucht werden und das eine oder andere Gebet meiner Mutter übersehen. Nach einer unruhigen Nacht, gegen Morgen, hörte ich ihn plötzlich sagen: Solche Gedanken sind der Beweis dafür, wie recht ich gehabt habe, dich vom Priesterbe­ruf fernzuhalt­en. Selbstvers­tändlich werde ich weiter für deine Mutter da sein. Und Menschen, so fuhr er mit überrasche­nder Heftigkeit fort

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