Ein Schwan irrt sich gewaltig
Anna Weidenholzers Roman trägt einen wunderbaren Titel, der anfänglich verwirrt: „Finde einem Schwan ein Boot“. Die Unklarheit wird nach rund einem Viertel des Buches beseitigt, wenn Magda von einer schwarzen Schwänin erzählt, die ein Tretboot in Form eines Schwans als Partner auserkoren habe und lang nicht von dessen Seite gewichen sei. „Finde einem Schwan ein Boot“, so beendet Magda ihre Anekdote.
Dass Weidenholzer für ihre vorigen Romane, „Der Winter tut den Fischen gut“und „Weshalb die Herren Seesterne tragen“, analoge Titel gewählt hat, ist keineswegs einem Hang der Autorin zum Manierismus geschuldet: Alle Titel finden sich in den Büchern wieder. Im jüngsten Roman ist der Schwan mehr als ein literaturgeschichtliches Motiv, denn das Verhalten des Tieres wird auch zur Metapher für die Handlung. In dem Buch zeichnet die fein beobachtende Autorin menschliches Verhalten auf, registriert subtile Verschiebungen darin und erfasst Widersprüche – stets ohne sie zu benennen oder zu kommentieren.
Der Roman erzählt von dem Paar Elisabeth und Peter, das in einer Siedlung einer ungenannten Stadt lebt, deren Silhouette Hochöfen dominieren. Peter ist Wetterberichterstatter, Elisabeth arbeitet in einem Büro, und als der Roman eingangs auf eine frühe Begegnung des Paares zurückblickt, erhaschen wir ein erstes Bild von der Art der Partnerschaft: Obwohl zwischen ihnen „eine Stille ist“, von der Elisabeth „denkt, das ist kein gutes Zeichen“, ist der Wunsch, „zwei Liebende“zu sein, stark; anfängliche Zweifel sind schnell überwunden, und der übrige Roman zeigt die beiden Jahre später in einer Beziehung. Er schildert gemeinsam verbrachte Freizeit mit Peters Familie, mit dem Nachbarpaar oder Besuche im Stammcafe´ Maria zur immer gleichen Tageszeit.
Gewohnheiten – tageszeitliche, jahreszeitliche – strukturieren Alltag und Wahrnehmungswelt der Figuren: „Fünf Jahre, denkt Elisabeth, und ich weiß, was er sagen wird.“Eine Vorhersehbarkeit, die ihr bei ihrem letzten Partner „zu viel geworden“ist. Derartige Erzählkommentare und ironische Seitenblicke auf Gewohnheiten der Figuren sind wichtig für den Roman, denn Weidenholzer zeigt, wie schmal der Grat ist zwischen Geborgenheit und Beengung.
Veränderungen in der Vertrautheit schleichen sich kaum merklich ein, als Peter ins Politikressort einer neuen Zeitung wechselt, obwohl er von Politik keine Ahnung hat. Aber „Politik ist wie das Wetter, es ist alles eine Frage, wie du die Katastrophe
lenkst“. Die Zeitung gibt’s gratis mit Prospekten; ihr Inhalt ist wiederholt Gesprächsthema: Artikel berichten von Angst vor nicht näher genannten Menschen, die im Park sitzen und dort sogar ihre Wäsche waschen; von notwendigen „Sicherheitswachepferden“, um „im Ernstfall“rasch eingreifen zu können; und davon, dass Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln und Klimawandel unbewiesen sei. Klimawandelleugnung, Kicklpferde, Fremdenangst – im Roman nur angedeutet, spätestens hier wird klar, welches Milieu der Roman zeigen will.
Schilderungen von Alltagsbeobachtungen im sozialen Feld (Partnerschaft, Nachbarschaft, Familie, Stammcafe)´ gilt Weidenholzers soziologisches Interesse und bildet ein durchgängiges Moment ihrer schriftstellerischen Arbeit. In „Finde einem Schwan ein Boot“zeigt sich ihr Analysefokus auf mehrere Arten. Erstens in der Beschreibung von Wohnraum oder Geschmack: dem Aufbau der neuen Wohnwand des Nachbarpaares, da die alte keinen Platz für den neuen übergroßen Fernseher bot; in Häkeldecken auf Glastischen, um Kratzer zu vermeiden; wenn an gemeinsamen Abenden Cola-Rot getrunken wird und im Cafe´ Maria Weinsorten in „gute“und „schlechte“eingeteilt sind.
Zweitens spricht dieses soziologische Interesse aus einem skurrilen Stammgast im Cafe´ Maria, der „Professorin“, die ihren Beinamen den kurzen Monologen verdankt, die sie anderen Gästen über sozialpsychologische Experimente hält. Davon abgesehen trinkt sie schweigend. Die Kurzvorträge der „Professorin“und die Handlung des Romans beziehen sich dabei immer stärker aufeinander, so etwa im Monolog über das Konformitätsexperiment des Sozialpsychologen Solomon Asch aus dem Jahr 1951. Das zeigte, wie das Gruppenverhalten Menschen dazu bringen kann, erkennbar falsche Aussagen als richtig zu bewerten: Probanden sollten die Länge von drei gezeichneten Linien schätzen. Ausgewählte Personen wurden instruiert, falsche Schätzungen abzugeben. So untersuchte Asch, wie stark sich Fehleinschätzungen von Mitmenschen auf die eigene Bewertung auswirken. Es zeigte sich, dass nur wenige Probanden unbeeinflusst von Fehleinschätzungen ihrer Peergroup blieben.
Nicht zufällig steht die Erzählung von diesem Experiment am Ende des Romans und perspektiviert so die zuvor angedeuteten Veränderungen infolge von Peters Berufswechsel. Elisabeth und Magda stoßen sich am Inhalt von „Peters Zeitung“, und Elisabeth fragt sich einmal, warum sie in einem Gespräch über Sicherheitswachepferde „sitzen geblieben ist“und ihre „Hand ließ, wo sie war, als Peter seine darauf legte“.
Am Ende steht also Elisabeths Ringen mit ihren Einwänden gegen Peters Arbeit und mit ihrer Missbilligung gewisser Werthaltungen des Milieus, das sie umgibt. Dass in dieser Problemlage ausgerechnet „die Professorin“den Roman um jene analytische Perspektive bereichert, die auch der Roman selbst für sich einzunehmen scheint, ist nicht ganz unproblematisch. Dieser Zuspitzung hätte es nicht bedurft, um zu fragen, wer unter welchen Umständen Tretboote für Schwäne halten kann.
Finde einem Schwan ein Boot Roman. 214 S., geb., € 20,60 (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)
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