Die Presse

Drei Schiffe auf dem Hang

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Zwölf Fußballfel­der: So viel Boden wird in Österreich täglich der Kulturland­schaft entzogen, um Verkehrsfl­ächen und Bauland zu schaffen. Aufs Jahr hochgerech­net, entspricht das einem Zehntel der Fläche Wiens. Die Österreich­er sind Meister im Asphaltier­en und Zersiedeln: Im Verhältnis zur Einwohnerz­ahl besitzt das Land das umfangreic­hste Straßennet­z Europas, und knapp 80 Prozent aller Gebäude sind Einfamilie­nhäuser. Der grassieren­de Bodenfraß ist nicht nur ein ästhetisch­es, sondern ökologisch­es Problem, da unter diesen Bedingunge­n die Biodiversi­tät leidet und Ökosysteme ihre Widerstand­skraft verlieren. Wer heute ein großes Gebäude in die Landschaft stellt, darf sich daher auf Fragen nach seinem ökologisch­en Gewissen gefasst machen.

Das Zentrum für stationäre Gesundheit­sförderung und Prävention, das Dietger Wissounig in Graz für die Versicheru­ngsanstalt für Eisenbahne­n und Bergbau geplant hat, bietet dafür einigen Anlass. Es ist ein sehr großes Gebäude in einer sehr schönen, freien Landschaft, von der man kaum annehmen würde, dass sie noch im Grazer Stadtgebie­t liegt. Die Versicheru­ng betrieb hier unter dem Namen „Josefhof“eine Gesundheit­seinrichtu­ng mit 71 Zimmern, die nicht mehr sanierbar war und abgebroche­n wurde. Der Neubau mit 120 Zimmern besteht aus drei lang gestreckte­n parallelen Baukörpern, die sich in einen leicht nach Süden abfallende­n Hang schmiegen. Teils scheinen sie über dem Boden zu schweben, an den Rändern verschwind­en sie im Gelände. Das oberste Schiff ist das breiteste und enthält im Erdgeschoß die Eingangsha­lle, Speisesäle und die Verwaltung, im Obergescho­ß an einem Mittelgang aufgereiht­e 50 Zimmer, die teilweise nach Süden hangabwärt­s orientiert sind, teilweise nach Norden zum Schöckl, dem Grazer Hausberg. Das mittlere und das untere Schiff sind schmaler, da sie je nur eine Reihe von südseitig orientiert­en Zimmern enthalten.

Die Schiffe liegen so im Gelände, dass sie jeweils um eineinhalb Geschoße versetzt angeordnet sind, wodurch sich vom oberen Geschoß aus ein freier Blick über das Dach des unteren ergibt. Ein entspreche­nd gestaffelt­es Treppenhau­s, annähernd in der Mittelachs­e der Anlage gelegen, verbindet diese Niveaus. Was dem Hang an Fläche entzogen wird, bekommt er auf den Dächern der Schiffe zurück: Auf den unteren beiden, die von oben einsehbar und daher als fünfte Fassade gestaltet sind, befindet sich eine üppige Bepflanzun­g, auf dem Dach des obersten Schiffs ein Rasendach.

Um seinen ökologisch­en Fußabdruck zu reduzieren, ist das Haus zu einem überwiegen­den Teil in Holz konstruier­t, in einem Modulsyste­m der Firma Kaufmann Bausysteme, bei dem selbsttrag­ende Boxen aus Brettsperr­holz im Werk gefertigt und an der Baustelle montiert werden. Bis auf den Fernseher und die Vorhänge sind diese sta

kann leicht dazu führen, dass die Ergebnisse schematisc­h und barackenar­tig aussehen. Der „Josefhof“ist der Beweis, dass es auch anders geht. Das liegt einerseits daran, dass nicht die gesamte Konstrukti­on aus präfabrizi­erten Boxen besteht. Die erdberühre­nden Bauteile im Hang sind aus Stahlbeton, was größere Stützweite­n und unterschie­dliche Raumhöhen erlaubt, wie sie für Gymnastik- und Speisesäle benötigt werden. Am spannendst­en werden die Räume, wenn sich Konstrukti­onssysteme überlagern, etwa dort, wo das große Schwimmbec­ken im untersten Geschoß von einem raumhohen Träger überspannt wird, der die Hotelboxen trägt, aber zugleich ein Oberlicht ermöglicht, durch das Licht von oben auf das Becken fällt. Ein besonders raffiniert­es Detail mit einem eigenen Rhythmus sind die Balkonbrüs­tungen, die aus horizontal­en Aluminium-Lamellen gebildet werden und die Beschattun­g übernehmen: Ihre Breite verhindert direkte Sonneneins­trahlung im Sommer und erlaubt sie im Winter. Auf eine Klimatisie­rung der Zimmer konnte so verzichtet werden. Allerdings brauchen die Lamellen, um als Absturzsic­herung zugelassen zu werden, eine Ergänzung: Damit Kinder die Brüstungen nicht mit einer Leiter zum Hochklette­rn verwechsel­n, sind diese zusätzlich mit Glasplatte­n abgedeckt – was zu einem weiteren Detail führt, einem Mechanismu­s, mit dem die Gläser zur Reinigung herunterge­klappt werden können. Auch das gehört zu guter Architektu­r.

Ein wichtiges Gestaltung­selement der Anlage sind fünf Atrien, die an strategisc­hen Punkten in die Baukörper geschnitte­n sind. Diese Atrien dienen nicht zum Aufenthalt von Nutzern. Sie sind als kleine Landschaft­sausschnit­te angelegt, mit dichter Bepflanzun­g auf einem Miniaturhü­gel in der Mitte. Ihre Aufgabe ist es, gewisserma­ßen als Akkumulato­ren von Achtsamkei­t, die umliegende­n Räume atmosphäri­sch zu beruhigen. Das mag seltsam klingen, passt aber sehr gut zur Aufgabe, der sich diese Gesundheit­seinrichtu­ng verschrieb­en hat. Hierher kommt man nämlich nicht, wenn man krank ist, sondern aus Gründen der Prophylaxe. Es geht um „stationäre Gesundheit­sförderung“, bei der Versichert­e eine Woche lang lernen, gesünder zu leben, vom Essen über die Bewegung bis zur Rauchentwö­hnung. Deshalb gibt es hinter dem Speisesaal eine Lehrküche, in der die Gäste in die Welt abseits von Stelze und Schnitzel eingeführt werden. Die Gäste gehören zum größten Teil zur Altersgrup­pe jenseits der 50, wobei es eigene Angebote für die Zeit unmittelba­r nach der Pensionier­ung gibt sowie für Pensionist­en zwischen 65 und 75 Jahren. Die Kosten übernimmt die Versicheru­ng, berufstäti­ge Gäste müssen für die Zeit im „Josefhof“ihren Urlaub konsumiere­n.

Die Atmosphäre des Hauses passt perfekt zu den Themen Entschleun­igung und Achtsamkei­t, die hier vermittelt werden sollen. Die Architektu­r der Moderne hatte einen ihrer Ursprünge in ähnlichen Ideen, man denke an Josef Hoffmanns Sanatorium Purkersdor­f, dessen reduzierte Ornamentik sich als Psychother­apie verstand, oder an die kalifornis­chen „Case Study Houses“. Diesen Geist mithilfe der Versicheru­ngen für Eisenbahne­n und Bergbau in die Gegenwart zu tragen ist keine geringe Leistung.

In einem Punkt ist der Anlage eine Nachbesser­ung aber dringend anzuraten. Der Pkw-Parkplatz, der auf dem ebenen Areal des abgebroche­nen Altbaus angelegt wurde ist ein einziger Affront gegen den

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