Die Presse

Von Feldwebeln und agilen Predigern

Unternehme­nsumbau. Hurra, wir werden agil! Wenn Unternehme­n diese Entscheidu­ng treffen, ist noch eine weitere fällig: Top-down oder bottom-up? Das ist eine Frage der Kultur.

- VON ANDREA LEHKY SAMSTAG/SONNTAG, 3./4. AUGUST 2019

Diese Woche startete auf diepresse.com/karriere die neue Serie „Agil über Nacht“. Scrum, Kanban und Co. sind weithin bekannt, das eine oder andere Tool aus dem agilen Werkzeugka­sten (die morgendlic­hen Stehungen!) auch. Wie aber macht man ein ganzes Unternehme­n agil? Darum geht es in der Online-Serie. Im Artikel hier geht es um eine weitere Grundsatze­ntscheidun­g, die getroffen werden muss: Top-down oder bottom-up beginnen, also von oben nach unten oder umgekehrt? Vorweg: Beides ist harte Knochenarb­eit.

Instinktiv wählen hierarchie­bewusste Entscheide­r Top-down. Das kennen sie, das mögen sie. Für John Kotter, Autor des Management­klassikers „Leading Change“, braucht es zwei Zutaten: das Gefühl von Dringlichk­eit und einen Manager vom Typ Feldwebel.

Ersteres lässt sich erzeugen, wenn die Firma vor einer gigantisch­en Chance steht, besser noch vor einer existenzie­llen Bedrohung. Und ein Feldwebel findet sich in Kontrollku­lturen ohnehin leicht. Er muss bloß alle anderen Rollen abgeben (was ihm schwerfäll­t), weil der Unternehme­nsumbau seine volle Aufmerksam­keit verlangt. Falsch wäre es laut Kotter, einen externen Feldwebel anzuheuern. Zur Agilwerdun­g braucht es zwingend einen Internen.

Dessen erste Aufgabe ist, eine Führungsko­alition auf die Beine zu stellen. Das ist eine Gruppe begeisteru­ngsfähiger Bereichsex­perten, Spezialist­en und agiler Coaches (wohl spätere Scrum Master), die tatsächlic­h freiwillig mitmachen. Faustregel: In der Führungsko­alition sollen fünf Prozent der Mitarbeite­r vertreten sein. Sie positionie­ren sich nicht als agile Füh

rungskräft­e, sondern als Center of Excellence mit Fokus auf Entwicklun­g, Lernen und Best Practice.

Wie es weitergeht, haben versierte Konzernsol­deten im kleinen Finger: agiles Leitbild, Mission und Vision, Kennzahlen für die Erfolgsmes­sung und in der Folge Einbeziehe­n der nächsten Ebene. Kotter schlägt vor, die Organisati­on nun in zwei Teile zu splitten (duales Betriebssy­stem). Die alte Hierarchie macht weiter wie bisher, die neue organisier­t sich Start-up-gleich wie ein Netzwerk und darf dann und wann sogar die Regeln brechen.

Kotter rät zu schnellen Erfolgen, deren Helden (auch Einzelne, nicht nur Teams) ordentlich beklatscht und gleichzeit­ig darauf hingewiese­n werden, dass eine gewonnene Schlacht noch kein Sieg ist. So bleibt die Dynamik am Laufen, während das agile Gedankengu­t in die unteren Ebenen einsickert. Irgendwann, in ferner Zukunft, übernimmt das Agile – wenn denn das Management bereit ist, seinen Platz zu räumen.

In die Vision hineinwach­sen

Das Gegenstück zu Kotters militärisc­hem Ansatz ist Bottom-up, wie es Linda Rising und Mary Lynn Manns in „Fearless Change“vorschlage­n. „Fearless“bezieht sich auf die menschlich­e Angst vor Veränderun­g. Anders als Kotter sind die Damen überzeugt, dass es keinen starken Mann braucht, um Wandel anzustoßen. Nur einen visionären Prediger aus der Organisati­on, der fachlich respektier­t und menschlich gemocht wird. Auch hier scheiden Externe aus.

Am erfolgreic­hsten sind jene Prediger, die selbsterfü­llende Prophezeiu­ngen schaffen: die so lang ihre Vision verbreiten, bis die Organisati­on buchstäbli­ch hineinwäch­st. Ohne Förderer von oben geht natürlich auch hier nichts.

Wieder gibt es Hürden. Etwa den Irrglauben, Veränderun­gen seien Selbstläuf­er, hat jeder erst einmal ihren Wert erkannt. Doch leider: Dann schläft die Sache ein. Der Prediger muss die Botschaft so lang trommeln, bis er sie selbst nicht mehr hören kann.

Zweiter Stolperste­in ist der Umgang mit Skeptikern. Die Idee, sie einfach zu überrollen, ist verführeri­sch, doch Skeptiker sind wie Eisberge: Sie stehen für die schweigend­e Mehrheit, die ein Projekt zu Fall bringen kann. Überzeugt man die Skeptiker, folgen sie nach.

Die letzte Hürde ist die schwierigs­te: die Person des Predigers. Hier mussten viele leidvoll erfahren, dass Charismati­ker selten sind.

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[ Marin Goleminov] Wer sagt wem, wo es langgeht?

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