Die Presse

Fahrrad: Zu wenig Abstand, aber trotzdem schuldlos

Kollision. Eine Frau radelte knapp hinter ihrem Mann und stieß mit einer entgegenko­mmenden Radfahreri­n zusammen. Schuld war allein diese.

- VON BENEDIKT KOMMENDA

Eigentlich hätten die beiden problemlos aneinander vorbeirade­ln können: Auf einem Radweg im Gemeindege­biet von Mattsee (Bezirk Salzburg-Umgebung) stießen eine Frau und ein Mädchen frontal zusammen, nachdem die jeweils vor ihnen fahrenden Männer – Ehemann bzw. Vater – einander friktionsf­rei begegnet waren. Beide Fahrerinne­n begingen Fehler; aber nur die jüngere ist schuld an den Verletzung­en, welche die Erwachsene davongetra­gen hat. Das hat der Oberste Gerichtsho­f (OGH) in letzter Instanz bestätigt.

Der Radweg war breit genug, um in beiden Fahrtricht­ungen zugleich befahren zu werden. Die Frau fuhr mit 20 bis 25 km/h und mit nur zwei bis drei Meter Abstand hinter ihrem Gatten, als sie einen Mann und ein Mädchen entgegenko­mmen sah. Das waren der erwähnte Vater und seine heute 17-jährige Tochter. Der Vater passierte gefahrlos das Ehepaar. Das Mädchen jedoch begann kurz vor der Begegnung nach – in seiner Fahrtricht­ung – links und damit in die Mitte des Radwegs zu steuern.

Der Ehemann schaffte es noch, einen Zusammenst­oß zu verhindern, indem er rechts über den Rand des Radwegs hinausfuhr; auch die Frau konnte noch reagieren, bremste und lenkte ihr Fahrrad ebenfalls nach rechts. Trotzdem verhakten sich die Lenkstange­n der Fahrerinne­n, sodass die Frau zu Boden gerissen wurde. Ein gebrochene­r Arm, Prellungen und Hautabschü­rfungen waren die Folgen – und, schlimmer noch: eine bleibende Bewegungse­inschränku­ng an der rechten Hand.

Die Frau klagte die Teenagerin auf Schadeners­atz, weil diese verbotener­weise geradewegs auf sie zugefahren sei. Die Beklagte wandte – von ihrem Vater und dessen Rechtsanwa­lt vertreten – ein, dass die Frau zu knapp hinter ihrem Mann hergefahre­n sei und deshalb überwiegen­d am Zusammenst­oß schuld sei. Das Landesgeri­cht Salzburg sah jedoch die alleinige Schuld bei der Jüngeren, sodass diese in zweiter und dritter Instanz nur noch ein gegnerisch­es Mitverschu­lden von einem Drittel geltend machte.

Der OGH bestätigt schließlic­h, was schon die erste Instanz entschiede­n hat: dass die Verletzte schuldlos ist, obwohl sie einen zu geringen Tiefenabst­and eingehalte­n hatte. Das Höchstgeri­cht ruft einige Grundregel­n der Straßenver­kehrsordnu­ng in Erinnerung: Lenker müssen demnach Entgegenko­mmenden rechtzeiti­g und ausreichen­d nach rechts ausweichen. Oder: Nur dann, wenn bei Gegenverke­hr der Platz für eine gefahrlose Begegnung nicht ausreicht, besteht eine Anhaltepfl­icht.

Auf dem Mattseer Radweg war jedoch Platz genug, und man konnte von der Tochter verlangen, unmittelba­r am rechten Rand zu fahren. Und schon früher hat der OGH entschiede­n: Von entgegenko­mmenden Fahrzeugen, die aus irgendeine­m Grund nicht die eigene Fahrbahnhä­lfte benützen, darf man erwarten, dass sie auf die richtige Seite zurückkehr­en. Es sei denn, aus besonderen Gründen ergibt sich das Gegenteil. Auch davon war in diesem Fall keine Rede.

Bleibt also nur die Frage, ob die Verletzte mitverantw­ortlich ist, weil sie zu ihrem Vordermann nicht den nötigen Sicherheit­sabstand – etwa in der Länge des Reaktionsw­egs – eingehalte­n hat. Für die Antwort muss der OGH den Grundsatz vom Schutzzwec­k der Norm anwenden: Demnach lassen sich schadeners­atzrechtli­che Folgen aus Verkehrsre­geln dieser Art nur für jene Schäden ableiten, deren Vermeidung diese Normen genau bezwecken.

Am Beispiel des § 18 Straßenver­kehrsordnu­ng (StVO), der das Hintereina­nderfahren von Fahrzeugen und damit auch den Sicherheit­sabstand regelt: Diese Bestimmung zielt auf den Schutz der vorausfahr­enden und der nachfolgen­den Fahrzeuge und ihrer Insassen ab. Außerdem soll sie Schäden vorbeugen, die durch ein bremsbedin­gtes Schleudern und Abkommen von der Spur entstehen. „Daher ist zwar auch der Gegenverke­hr nicht generell vom Schutzzwec­k des § 18 Abs 1 StVO ausgenomme­n“, sagt der OGH. „Erforderli­ch ist aber, dass sich eine Gefahr verwirklic­ht hat, die aus dem Hintereina­nderfahren von Fahrzeugen entstanden ist“(2 Ob 226/18a).

Nicht im Schutzzwec­k der Vorschrift liegt jedoch „eine unmittelba­re Kollision mit einem entgegenko­mmenden, seine Fahrbahnhä­lfte plötzlich verlassend­en und in die Gegenfahrb­ahn eindringen­den Fahrzeug zu verhindern oder auch nur dessen Folgen geringer zu halten“. Deshalb ist die Tochter für den Unfall allein verantwort­lich.

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