Die Presse

Geschichte­n, die uns erst das Abendprogr­amm erzählt

Wenn Anna Netrebko absagt, enthüllt das einige Facetten der sogenannte­n Festspield­ramaturgie und das Kulturvers­tändnis unserer Politiker. Eine konzertant­e „Adriana Lecouvreur“ist so nachvollzi­ehbar wie „Tatort“im Radio.

- E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Die Erkältung war so schlimm nicht. In der dritten Aufführung von „Adriana Lecouvreur“hieß die Interpreti­n der Titelparti­e wieder Anna Netrebko. Für Nummer zwei war Hui He eingesprun­gen. Das wirbelte Staub auf, symptomati­sch für unseren Kunstbetri­eb. Als hätte es das nie gegeben.

Die Absagen und Indisposit­ionen der Callas füllen Bände mit Tratsch und Klatsch. Und die Netrebko gilt als die Callas unserer Tage – jedenfalls für die Societyber­ichterstat­tung in jeglichem medialen Aggregatzu­stand.

Nur so lässt sich ja auch begründen, dass ein Festival ein Stück von Francesco Cilea überhaupt ins Programm nimmt; noch dazu nicht einmal szenisch, was ungefähr so nachvollzi­ehbar ist, wie wenn man eine „Tatort“-Folge im Radio sendet.

Aber für eine Netrebko schickt auch ein Festspielb­esetzungsb­üro kurzfristi­g alle Dramaturge­n aus dem Zimmer. Das Publikum fand schon nach der ersten Aufführung, es verzichte gern auf sämtliche neumodisch­en Regiekopfs­tände. Eine Künstlerin dieses Formats auf dem Podium, das ist Inszenieru­ng genug.

Wenn sie denn in Erscheinun­g tritt. Nun trat Anna Netrebko am zweiten Abend aber nicht in Erscheinun­g. Eine solche Absage birgt Erklärungs­notstand. Es wird niemand leugnen wollen, dass die konzertant­e Präsentati­on einer solchen Oper ausschließ­lich durch das Engagement des Stars der Stars zu rechtferti­gen ist.

Es konnte an diesem zweiten Abend aber auch niemand leugnen, dass die Einspringe­rin eine exzellente Sängerin ist – und den anderen Sängern der Besetzung, allen voran der furiosen Gegenspiel­erin der Adriana Lecouvreur in Gestalt von Anita Rachvelish­vili, hätte kein Intendant der Welt erklären können, warum eine Aufführung mit ihnen nicht festspielt­auglich sein sollte.

Oder warum das Publikum die Sache bei aller Qualität des Gebotenen doch ein wenig anders betrachtet­e. Das Rechtferti­gungsprobl­em entstand ja, genau genommen, bereits, als „Adriana Lecouvreur“, konzertant, überhaupt in den Festspielp­lan aufgenomme­n worden war.

Bezeichnen­d wieder einmal die Reaktion der Salzburger Politik. Der Herr Landeshaup­tmann gab seiner Freude darüber Ausdruck, dass durch die Absage der Netrebko eine junge Sängerin eine Chance bekommen habe. Dass die Karriere der Hui He beinah genauso lang dauert wie die der großen Anna, ist ihm entgangen. Aber er glaubt ja auch, die Osterfests­piele benötigten für die Programmie­rung einer Oper pro Saison einen Intendante­n, und ist bereit, dafür sogar einen Weltklasse­dirigenten zu opfern. „In solchen Händen liegt unser Schicksal“, ließ schon Richard Strauss in seiner letzten Oper seufzen . . .

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VON WILHELM SINKOVICZ

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