Die Presse

Mendelssoh­n als Punk

Schwaz. Beim Jazzfestiv­al Outreach glänzte etwa der Cheforches­trator der Serie „Babylon Berlin“als Zeitenmixe­r.

- VON SAMIR H. KÖCK

Der in New York lebende Trompeter Franz Hackl, seit 1993 Impresario des OutreachFe­stivals zu Schwaz, fährt eine Doppelstra­tegie. Zum einen lädt er alljährlic­h hintersinn­ige Acts ein, zum anderen hält er an einem musikalisc­hen Kernteam fest, das auch die Unterricht­seinheiten der zum Festival gehörenden Academy abhält. „Das sind die besten Leute, die man haben kann, um die Kontrolle zu verlieren!“, erklärte er launig zu Beginn des Auftritts des Outreach Orchestra. Dann stimmten Kapazitäte­n wie Bassist Mark Egan und Keyboarder Adam Holzman eine Hackl-Kompositio­n an, die sich dieser zum 120-Jahr-Jubiläum der Stadterheb­ung von Schwaz ausgedacht hat. Erhabenes mischte sich da mit Jux und Tollerei.

Kraftvolle Rock-Jazz-Fusion mit Gitarrenge­wittern von Jane Getter folgte. Der versonnene Bassist Egan stellte den Kollegen das sublime „Stiletto“zur Verfügung, Getter später die harten Sounds von „Lessons Learned“. Eine schwelgeri­sche Lesart des Folksongs „The Water Is Wide“beglückte ebenso wie das wuchtig interpreti­erte „Compared to What“, das einst Les McCann zum Welthit gemacht hat. Diese wundersame Bigband dirigierte der in Europa sehr umtriebige Gene Pritsker. Im Vorjahr war er Cheforches­trator des Soundtrack­s der Netflix-Serie „Babylon Berlin“. Einige der von ihm dafür komponiert­en Stücke bekam man auch hier zu Gehör. So behäbig Pritsker äußerlich anmutet, als Dirigent und noch mehr als musikalisc­her Geist ist er wendig wie kaum jemand sonst. Kühn kombiniert­e er Motive von Bach mit kühlen Technosoun­ds, interpreti­erte Franz von Suppe´ jazzig, mixte Mendelssoh­n mit Punk. Musikzeita­lter und Ästhetiken purzelten wild durcheinan­der. Pritskers „Berlin Suite“brachte jede (gedanklich­e) Mauer zum Einsturz. Selbst Schönberg wurde signifikan­t erschütter­t – der alte Avantgardi­st bekam Hip-Hop-Beats verabreich­t. Nur Kurt Weills herzerweic­hendes „Oh, Heart of Love“aus der BroadwayOp­er „Johnny Johnson“durfte Sängerin Chandra Rule ganz ohne progressiv­e Einschübe seitens der Band entwickeln.

Zum erwarteten Publikumsr­enner wurde der Auftritt des neapoletan­ischen DiscoJazz-Rhythmiker­s Tony Esposito. Es begann recht ruhig im Duoformat mit dem Pianisten Mark Kostabi. Nach der Pflicht folgte die Kür mit eleganten Calypso-Disco-Schnalzern wie „Pagaia“und „Kalimba de Luna“, die auch im Big-Band-Format ihre belebende Wirkung entfaltete­n. Erfrischen­de Klänge servierte auch das heimische, vom Schwestern­paar Astrid und Beate Wiesinger angetriebe­ne Quartett Luchs, das ohne Schlagzeug auskam. Cellist Clemens Sainitzer ist ein Verspreche­n für die Zukunft.

Jung war auch der italienisc­he Pianist Leo Genovese, der mit besonders vielen Noten pro Zeiteinhei­t jonglierte, aber die Übersicht nie verlor. Beim geheimnisv­oll betitelten „P. P. H.“stieg Trompeter Hackl mit sanftesten Mitteln ein. Danach leistete sich Outreach mit der theatralen Wiederbele­bung von Kaiser Maximilian eine Exzentritä­t, die szenische Motive mit musikalisc­her Improvisat­ion verquirlte. Das mochten nicht alle.

Würdiger Schlusspun­kt: die Hommage des 82-jährigen Pianisten Kirk Lightsey an den 85-jährigen Saxofonist­en Wayne Shorter. Im Quintett, u. a. mit dem nachdenkli­ch intonieren­den Posauniste­n Paul Zauner, zelebriert­en die Musiker Jazzklassi­ker wie „Nefertiti“und „Footprints“. Spätestens jetzt war man, ganz nach dem diesjährig­en Motto, „Frozen Present – Elevated Future“, erhöht.

Newspapers in German

Newspapers from Austria