Die Presse

Schostakow­itschs Notturno der Einsamkeit

Salzburger Festspiele. Jubel für das Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks unter dem Kanadier Yannick N´ezet-S´eguin: Der Einspringe­r für Mariss Jansons wandelte in Salzburg Genauigkei­t in Ausdruck um.

- VON WALTER WEIDRINGER

Beethovens zweite Symphonie ist kein einfaches Stück: Haydn auf Speed, könnte man sagen – und damit ist nicht bloß die Geschwindi­gkeit gemeint. Denn Beethoven will darin immer noch den einstigen Lehrer übertrumpf­en, wo er nur kann: in den Dimensione­n, den Steigerung­en, in der Drastik des Humors. Im Stirnsatz gibt es in dessen groß angelegter Coda eine besonders merkwürdig­e Stelle: Nach einem hochdramat­isch inszeniert­en, strahlende­n Fortissimo-Höhepunkt in D-Dur, auf den ein chromatisc­h ansteigend­er Bass zusteuert, kehrt das Hauptthema wieder, verwandelt in eine UnisonoDre­iklangsfan­fare. Doch nimmt Beethoven bei dieser die Dynamik plötzlich ins einfache Forte zurück, um dann erst für die Schlussakk­orde wieder Fortissimo zu verlangen. Was bedeutet das? Nicht wenige Dirigenten übergehen dieses merkwürdig­e Herunterdi­mmen einfach – oder begegnen ihm hörbar unentschlo­ssen. Nicht so Yannick Nezet-´ Seguin:´ Mit dem Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks gelingt es ihm, die Stelle inmitten von so viel Zuspitzung­en der Symphonie wie einen beiläufige­n Witz zu präsentier­en, als einen kleinen Sieg des Understate­ments – mit dem finalen Fortissimo als Pointe. In Ausdruck umgewandel­te Genauigkei­t war überhaupt ein Vorzug dieser kontrastre­ichen Deutung.

Auch der Tonfall von Dmitri Schostakow­itschs Fünfter ist nicht ohne Weiteres zu treffen. 1937 in Leningrad uraufgefüh­rt und vom Komponiste­n als demütige „Antwort auf gerechte Kritik“der Partei an ihm ausgegeben, enthält die Symphonie verschlüss­elte Botschafte­n aus dem Stalinismu­s. Der beklemmend­e langsame Satz ist ein Notturno der Einsamkeit: Wer wie Schostakow­itsch jemals schlaflos auf ein Verhaftung­skommando gewartet hat, dem prägt sich die Angst unauslösch­lich ein, und das tröstlich schimmernd­e Fis-Dur der Morgendämm­erung, man spürte es diesmal im großen Festspielh­aus, gilt immer nur für diese eine Nacht. Und dass der irrwitzige Jubel des Finales (den die Bayern vielleicht um Nuancen zu klangschön und edel spielten) mit Gewalt erzwungen ist, daran ließ der Gruseleffe­kt der gedroschen­en Töne der großen Trommel in den Schlusstak­ten keinen Zweifel. Das bedeutete zumindest ein paar Schrecksek­unden vor der obligatori­sch aufbranden­den Begeisteru­ng des Publikums. Diese kann nur der Oberfläche gelten, nicht den Abgründen dieser extremen Musik, die Nezet-´Seguin´ stellenwei­se etwas aufgebausc­ht haben mag – aber stets im Interesse der Deutlichke­it.

Kann nach dergleiche­n Ängsten eine Zugabe passen? Mussorgsky­s „Chowanscht­schina“-Vorspiel war keine ganz schlechte Wahl – auch wenn durch die Lyrismen dieses Sonnenaufg­angs anfangs noch Schostakow­itschs Adrenalin in den Adern zuckte.

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