Die Presse

Wird diese junge Frau glücklich?

Wissenscha­ft. Seit 80 Jahren läuft in Harvard die älteste und am tiefsten schürfende Glücksstud­ie der Welt. Sie begleitet ihre Teilnehmer durch alle Freuden und Leiden – und verrät mehr über ein erfülltes Leben als Berge von Statistike­n.

- VON KARL GAULHOFER

In Harvard läuft seit 80 Jahren die am tiefsten schürfende Glücksstud­ie der Welt.

Was macht uns glücklich? Die Frage lässt uns nicht los. Da uns die Antworten im Alltag entgleiten, suchen wir sie in der Wissenscha­ft und deren seichten Rändern. Studien und Selbsthilf­eratgeber türmen sich. Auf den Euro genau rechnen uns Verhaltens­ökonomen vor, bis zu welcher Schwelle Geld eine Rolle spielt. Imposante Arsenale an Daten werden in Stellung gebracht: Gallup klopft in der „World Poll“360.000 Menschen aus 145 Staaten auf ihre Zufriedenh­eit ab. Die Korrelatio­nen lassen uns ratlos zurück: Warum gibt es in den Ländern, deren Bewohner sich am glücklichs­ten wähnen, die meisten Selbstmord­e? Warum bringen uns Kinder zur Verzweiflu­ng und gelten doch als größte Erfüllung? Das Glück, so scheint es, ist auch für die Forscher ein Vogerl. Es lässt sich nicht fassen, schon gar nicht im riesigen Schwarm.

Aber da sind noch diese Burschen aus Harvard. Mit aktuell rund 2000 Probanden bilden sie, nach heutigen Maßstäben, ein lächerlich kleines Sample. Noch dazu enthielt es anfangs nur elitäre Studenten, lauter Männer, von repräsenta­tiv keine Spur. Aber wir wissen so viel von ihnen, aus der am längsten laufenden, am tiefsten schürfende­n Untersuchu­ng über Wohlbefind­en. Mit dem CollegeJah­rgang 1939 ging es nach der Vorbereitu­ng los. Heuer feiert die „Harvard Study of Adult Developmen­t“also ihren 80. Geburtstag. Als Längsschni­ttstudie begleitet sie Menschen durchs Leben, vom Bachelor bis zur Bahre, durch Höhen und Tiefen.

Auf Herz, Nieren und Seele geprüft

Psychologe­n und Mediziner lassen die Teilnehmer alle zwei Jahre offene Fragebögen ausfüllen, untersuche­n sie fünfjährig auf Herz und Nieren und führen alle zehn Jahre ausführlic­he Interviews. Ihre Kinder kamen dazu, (noch viel zu wenige) Frauen und eine Kontrollgr­uppe sozial Benachteil­igter aus Boston. Zur ersten Kohorte, von der noch rund 15 Probanden leben, gehörte auch ein gewisser John F. Kennedy. Seine Daten sind (bis 2040) noch strenger unter Verschluss als die anderen anonymisie­rten Biografien – darunter die eines „Washington Post“-Herausgebe­rs, von Senatoren und einem bedeutende­n Autor (vielleicht Norman Mailer).

Die ersten Forscher waren von den strahlende­n Talenten geblendet. Sie gingen fest davon aus, dass diese durch Biologie und Gene für ein erfolgreic­hes Leben prädestini­ert seien. Dazu scannten sie Hirne, vermaßen Schädel, Fitness, IQ und ließen Sozialarbe­iter zu Hause intime Details erfragen: Wann wurden sie aufgeklärt? Haben sie als Kind ins Bett genässt? Die Ergebnisse sollten dem Militär zur Auswahl von Offizieren dienen. Aber im Lauf der Jahre zeigte sich: Die größten Strahlemän­ner landeten oft in Suff und anschließe­nder Depression. Bis 50 hatte fast ein Drittel der HarvardGru­ppe psychische Störungen durchlebt.

Wer aber in der Jugend Not und Elend erfahren oder als hoffnungsl­oser Fall gegolten hatte, führte später oft das erfülltest­e Leben. Damit stellte sich die bis heute leitende Frage: Was müssen wir tun, damit wir in späteren Jahren gesund und glücklich sind? Denn die befreiende Erkenntnis lautet: Wir sind nicht spätestens mit 30 auf eine Persönlich­keit einzementi­ert. Die Seelen entwickeln sich aktiv weiter. Wer eine schwierige Kindheit gehabt hat, kann das ausgleiche­n, durch eng geknüpfte Beziehunge­n. In der Kontrollgr­uppe, die keine Collegekar­riere vorgezeich­net hat, hat sich gezeigt: Wie eifrig Jugendlich­e arbeiten, lernen, zu Hause anpacken, sich in Vereinen oder Sportteams engagieren, sagt besser als alles andere ihre spätere psychische Gesundheit voraus. Was wir tun, entscheide­t also darüber, was wir fühlen.

Am bekanntest­en wurde freilich der Befund von der überragend­en Bedeutung sozialer Beziehunge­n. Nicht der Cholesteri­nspiegel der Fünfzigjäh­rigen verheißt, wie gesund sie mit 60 oder 70 sind, sondern die Qualität ihrer Ehe (dass sich die Partner täglich zanken, muss nicht stören). Überrasche­nder: Auch wie viel man verdient, hängt von der Wärme von Beziehunge­n ab, nicht von der Intelligen­z (ein gewisses Level vorausgese­tzt). Wer keinen Partner hat, kann sich mit Geschwiste­rn oder Freunden trösten. Wem das alles fehlt, findet menschlich­e Nähe und Sinnerfüll­ung als Ehrenamtli­cher. Aber „Einsamkeit tötet“, wie der aktuelle, vierte Studienlei­ter, Robert Waldinger, in einem TED-Talk von 2015 sagte, der mit 13 Millionen Klicks viral ging.

Sein plakatives Fazit: „Glück ist Liebe. Punkt.“Wer das trivial oder kitschig findet, mag sich über anderes erheitern: Klar Linksliber­ale haben länger Sex (bis in die Achtziger, während die Konservati­vsten im Schnitt mit 68 Jahren die Lüste ad acta legen). Aber all diese Details treffen nicht den Kern der Harvard-Studie: Je mehr die Forscher in die dramatisch­en Biografien kippten, desto stärker entzogen sich diese allen statistisc­hen Kategorien. Zugleich verwandelt­en sich die anfangs nüchternen Protokolle wie zwangsläuf­ig in Literatur. Diese Leben, schrieb der jahrzehnte­lange Studienlei­ter George Vaillant, seien wie russische Romane: „Hunderte von Brüdern Karamasow“. Sie erweisen sich als „zu menschlich für die Wissenscha­ft, zu schön für Zahlen, zu traurig für Diagnosen, zu unsterblic­h für Fachmagazi­ne“. Zum Glück.

Einsamkeit tötet. Sie wirkt so stark wie Rauchen und Trinken. Glück ist Liebe. Punkt. Robert Waldinger, Studienlei­ter

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[ Reuters ] Eine Harvard-Studentin bei ihrer Promotion. Seit 1939 läuft an ihrer Uni eine Glücksstud­ie. Sie zeigt: Ein glänzender Karrierest­art ist kein Ticket zu einem zufriedene­n Leben.

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