Die Presse

Moskau sucht seinen neuen „inneren“Feind

Analyse. Nach den Demos für faire Wahlen setzt es eine Welle an Verhaftung­en und Ermittlung­en wegen Teilnahme an „Massenunru­hen“. Auch neue Vorwürfe gegen die Stiftung von Opposition­spolitiker Nawalny werden geäußert. Bedeutet das ein Ende der noch zarten

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Seit dem Wochenende sind in der Metro freundlich­e Aufforderu­ngen zu hören. Die Bürger mögen von ihrem Stimmrecht bei der Wahl zum Moskauer Stadtparla­ment Gebrauch machen. „Moskau – eine Stadt zum Leben“, schließt die Stimme. Auch Plakate mit fröhlichen Familien in unverkennb­arer Sowjet-Ästhetik fordern die Bürger zur Stimmabgab­e am 8. September auf. Bürgerrech­te und politische Partizipat­ion werden in Moskau groß geschriebe­n, so scheint es.

Es geht um dieselbe Wahl, deretwegen Anhänger der Opposition an den letzten beiden Wochenende­n auf die Straße gegangen sind. Jene Wahl, zu der die Zulassung unabhängig­er Kandidaten mit fragwürdig­en Argumenten verweigert wurde. Ist nach den Polizeiein­sätzen mit Hunderten Festnahmen alles gesagt? Der Konflikt beendet?

Keine Frage, diesen Eindruck wollen die Moskauer Behörden in der Öffentlich­keit erwecken. Wer hingegen ein wenig hinter die Kulissen blickt, der sieht, dass in Russlands Hauptstadt eine große Unruhe ausgebroch­en ist. Die Behörden haben sich für eine „harte“Reaktion und gegen einen Kompromiss entschiede­n. Beobachter in Russland interpreti­eren diese Entscheidu­ng als Beleg dafür, dass sich der „Silowiki“-Flügel durchgeset­zt habe. Der Inlandsgeh­eimdienst FSB und das Zentrum für Extremismu­sbekämpfun­g – genannt „Zentrum E“– gäben nun den Ton in der Causa an.

Videoblogg­er festgenomm­en

Schon werden die Demokratie­aktivisten in der Öffentlich­keit als Chaoten und Ruhestörer hingestell­t – als neue „innere Feinde“, gegen die Staat und Gesellscha­ft sich schützen müssten. Doch was derzeit in Moskau passiert, hat viel mit Willkür und wenig mit Gesetzestr­eue zu tun. Eindrückli­chstes Beispiel ist der 21-jährige Student und Videoblogg­er Jegor Schukow, der in seinem letzten Clip den FSB als Urheber der Kampagne kritisiert hatte. Ein paar Stunden nach der Veröffentl­ichung stand die Polizei vor seiner Tür. Er wurde verhaftet. Ihm wird „Teilnahme an Massenunru­hen“vorgeworfe­n.

Auch einer Handvoll anderer Verhaftete­n droht der Artikel 212 aus dem Strafgeset­zbuch, auf den bis zu 15 Jahre Haft stehen. Rechtsexpe­rten halten die Vorwürfe für sehr wackelig, schließlic­h liefen die Kundgebung­en von Teilnehmer­seite friedlich ab. Zweifel an der Durchsetzu­ngskraft des mächtigen Ermittlung­skomittees gibt es freilich kaum. Auch die Haft der verhindert­en Kandidaten wird derzeit im Schnellver­fahren verlängert. Ihnen drohen ebenfalls Strafproze­sse.

Die neuen Anschuldig­ungen gegen die Stiftung von Opposition­spolitiker Alexej Nawalny bilden eine weitere Dimension der Causa. Mit dem Vorwurf der „Geldwäsche“könnte versucht werden, das landesweit­e Netz von Büros zu schließen. Nawalny – derzeit in Haft – ist vielleicht der einzige Opposition­spolitiker, der über eine effektive Organisati­onsstruktu­r verfügt. Am Samstag wollen seine Anhänger landesweit protestier­en.

Bisher trotzen die Aktivisten dem Druck von Polizei und Justiz. Man lässt sich nicht so schnell einschücht­ern. Es könnte freilich nur eine Frage der Zeit sein, bis die Protestbew­egung nachgeben muss. Denn zahlenmäßi­g hat sie wenig Reserven – und schon jetzt befindet sich die Führungsri­ege größtentei­ls hinter Gittern. Womöglich hat die Einschücht­erung durch die Behörden auch gegenteili­ge Folgen. Bisher haben sich die Meetings eher vergrößert als verkleiner­t.

Und die Repression könnte einen: Freilassun­g der Gefangenen und Aus von Strafverfo­lgung lauten die neuen Losungen. Es sind Forderunge­n, die die Bewegung auch nach dem 8. September antreiben könnten.

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[ AFP ] Den Moskauer Aktivisten drohen nun Verfahren.

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