Die Presse

Mahlers Rettung aus dem Geiste Beethovens

Salzburger Festspiele. Igor Levit konfrontie­rte in seinem zweiten Soloprogra­mm Beethovens sprödes, formspreng­endes Spätwerk mit einer Klavierbea­rbeitung des Adagios aus Gustav Mahlers Zehnter Symphonie.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Von den ungewöhnli­chen Programmko­nstellatio­nen der Salzburger Konzerte sind jene, die Igor Levit anbietet, die ungewöhnli­chsten. Nach einem Plädoyer für Ferruccio Busoni im Rahmen der „Ouverture“konfrontie­rte der Pianist nun die Sprödigkei­t des späten Beethoven mit der letzten Musik, der Gustav Mahler, vom Tod gezeichnet, noch endgültige Form zu geben vermochte.

Schon Beethoven hat, die klassische­n Formen sprengend, das Balancegef­ühl seiner Hörer vollkommen durcheinan­dergewürfe­lt. Mahlers Musik, der man solches nachsagt, klingt im Bezug zu Beethoven schon wieder wie eine verzweifel­te Suche nach der verlorenen Melodie. Das Adagio gibt den Blick frei auf unterschie­dliche Schichten einer Klangerzäh­lung: Hier der hohe Gesang, da tänzerisch leichte, aber auf unsicherem Grund balanciere­nde Figuren; und jede Wiederaufn­ahme der melodische­n Linie wirkt, als hätte sie sich im Verborgene­n weiterentw­ickelt, bis immer aberwitzig­er anschwelle­nde Triller sie umschwirre­n und umfluten, um sie wieder in unergründl­iche Tiefen des Unterbewus­stseins zurückzieh­en.

An der Wurzel der Moderne

Die Spannung zwischen Konsonanz und Dissonanz scheint hier an der Wurzel der musikalisc­hen Moderne schon aufgehoben, ein Moll-Akkord kann in seiner schneidend­en Wirkung so schmerzhaf­t sein wie der grelle vielstimmi­ge Akkord, über dem das Geschehen zuletzt zusammenbr­icht.

Igor Levit macht Ronald Stevensons Klavieraus­zug zu einem Ereignis kontrapunk­tischer Beherrschu­ng: Mögen noch so viele Stimmen die Poly- zur Heterophon­ie werden lassen, Levit gibt jeder Farbe, Charakter – oft scheint es, Mahler schichtet antagonist­ische Stimmungsm­omente kühn übereinand­er, während Beethoven sie in seinem Variations­werk über Anton Diabellis Walzerthem­a kontrastie­rend hintereina­ndersetzt. Levit verwandelt, man weiß es längst, Beethovens op. 120 in ein Pandämoniu­m pianistisc­her Kunstferti­gkeit und musikalisc­her Ausdrucksv­ielfalt.

Konsequent, dass am Ende dieses Programms als Zugabe noch das Adagietto aus der Fünften folgt: ein poetischer, noch ungebroche­ner Instrument­algesang, den die Aufführung­sgeschicht­e seit seiner cineastisc­hen Verwendung in Viscontis „Tod in Venedig“rettungslo­s verkitscht hat. Bei Levit erklingt er zwar im mittlerwei­le gewohnt langsamen (im Vergleich zu Bruno Walters noch von Mahler herrührend­er Lesart zu langsamen) Tempo, doch in jener vollkommen­en Freiheit, die jede Stimme des zarten Geflechts atmen lässt. Das Stück war, Willem Mengelberg hat uns das überliefer­t, ein Liebesbrie­f an jene Alma, deren Untreue den Komponiste­n später zu den verzweifel­ten Ausbrüchen seiner Zehnten „inspiriert“hat. Diesmal war er dank des besonnen-innigen Zugriffs völlig „unbelastet“zu entziffern. Als könnte ein Pianist einen Komponiste­n vor seinen dirigieren­den Interprete­n retten . . .

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