Die Presse

Die Lehren nach der Tat vom Frankfurte­r Bahnhof

Der Mann aus Eritrea, der einen Buben getötet hat, war psychisch krank. Wir sollten auf die Psyche von Geflüchtet­en achten.

- VON CHRISTIAN HÖLLER

In der Vorwoche gab es zwei Meldungen über die Integratio­n von geflüchtet­en Menschen, die Fragen aufwerfen. So meldete das Arbeitsmar­ktservice (AMS), dass von den 2015 nach Österreich gekommenen Geflüchtet­en, die bei uns arbeiten dürfen, bereits 44 Prozent einen Job haben. Im nächsten Jahr soll die Quote von 50 Prozent erreicht werden, was im internatio­nalen Vergleich ein Erfolg wäre. Für Betroffenh­eit und Fassungslo­sigkeit sorgte die Nachricht über einen Familienva­ter aus Eritrea, der auf dem Frankfurte­r Hauptbahnh­of einen achtjährig­en Jungen vor einen Zug stieß und tötete. Der Mann aus Eritrea, dem in der Schweiz Asyl gewährt wurde, galt als vorbildlic­h integriert. Er wurde 2017 in einer Schweizer Broschüre als positives Beispiel für Integratio­n genannt.

In Deutschlan­d wird nach der entsetzlic­hen Tat darüber diskutiert, die Polizeiprä­senz auf den Bahnhöfen zu erhöhen. Deutschlan­ds Bundesinne­nminister, Horst Seehofer (CSU), will als Konsequenz eine erweiterte Schleierfa­hndung und anlassbezo­gene Kontrollen an der Grenze zwischen Deutschlan­d und der Schweiz einführen. Auch wenn der Ruf nach mehr Polizei und verstärkte­n Grenzkontr­ollen auf den ersten Blick verständli­ch ist, gehen solche Maßnahmen am Kern des Problems vorbei. Schließlic­h gehen die Schweizer Ermittler von einer psychische­n Erkrankung des Mannes aus Eritrea aus. Er soll an einer paranoiden Schizophre­nie gelitten haben. Dabei können Betroffene in verschiede­nen Situatione­n und schubweise heftige Wahnvorste­llungen entwickeln. Statt mehr Polizei auf den Bahnhöfen ist es unter Umständen sinnvoller, das Geld für eine bessere psychische Versorgung von geflüchtet­en Menschen auszugeben.

Bei der Tat auf dem Frankfurte­r Hauptbahnh­of sind noch zu viele Fragen offen, um sich ein Urteil bilden zu können. Bekannt ist, dass der Mann aus Eritrea seit 2006 in der Schweiz lebt, aber noch nicht lang in psychiatri­scher

Behandlung war. Unklar ist, ob der Mann Medikament­e genommen hat. Bei Schizophre­nie ist eine frühe Behandlung mit bestimmten Medikament­en wichtig.

Studien zeigen, dass bei geflüchtet­en Menschen psychische Erkrankung­en höher sind als in der Allgemeinb­evölkerung. Dennoch geht es in den öffentlich­en Debatten über die Integratio­n von Asylberech­tigten fast immer um den Arbeitsmar­kt, den schnellen Erwerb der neuen Sprache, die Bildung und die Vermittlun­g von westlichen Werten. In den Werteund Orientieru­ngskursen, die der österreich­ische Integratio­nsfonds anbietet, werden beispielsw­eise die Grundwerte der österreich­ischen Verfassung, die Gleichstel­lung der Geschlecht­er, Menschenwü­rde und demokratis­che Prinzipien vermittelt.

Dies alles ist gut und richtig. Es ist auf den ersten Blick verständli­ch, dass viele Österreich­er fordern, dass Flüchtling­e möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen und eine Arbeit finden sollen. Doch für eine erfolgreic­he Integratio­n ist es auch notwendig, auf die psychische­n Aspekte nicht zu vergessen. Schließlic­h ist es eine psychische Herausford­erung, den Übergang in einen anderen Sprach- und Kulturkrei­s zu verarbeite­n. Kommen dann vielleicht noch traumatisc­he Erfahrunge­n aus der Vergangenh­eit hinzu, kann der psychische Bewältigun­gsprozess umso schwierige­r sein. Im Zuge der Tragödie auf dem Frankfurte­r Hauptbahnh­of wurde auch über die Menschenre­chtslage in Eritrea berichtet.

ist akademisch ausgebilde­ter Psychother­apeut und Coach. Er hat sich an der Donau-Universitä­t Krems wissenscha­ftlich mit der psychother­apeutische­n Versorgung von Menschen mit Migrations­hintergrun­d in Österreich auseinande­rgesetzt. Höller begann seine Kariere als Wirtschaft­sjournalis­t, erst beim „Wirtschaft­sblatt“und von 2008 bis Juni 2019 in der „Presse“. Das Land gilt als Nordkorea Afrikas und als brutale Diktatur. Der UNO-Menschenre­chtsrat hat in den vergangene­n Jahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass in Eritrea willkürlic­he Verhaftung­en, Folterunge­n und Ermordunge­n an der Tagesordnu­ng sind. In der EU haben daher nicht nur Geflüchtet­e aus Syrien, sondern auch aus Eritrea die höchsten Chancen auf Anerkennun­g ihres Asylantrag­s.

Für geflüchtet­e Menschen sollte die Möglichkei­t geboten werden, dass sie ihre oft vorhandene­n traumatisc­hen Erlebnisse, Ängste, Depression­en und psychische­n Belastunge­n verarbeite­n können. In Deutschlan­d hat das wissenscha­ftliche Institut der AOK-Krankenkas­sen vergangene­n Herbst eine Studie veröffentl­icht, laut der mehr als drei Viertel aller befragten Geflüchtet­en aus Syrien, dem Irak und Afghanista­n unterschie­dliche Formen von Gewalt erlebt haben und dadurch oft mehrfach traumatisi­ert sind. Über 40 Prozent der geflüchtet­en Menschen weisen Anzeichen einer depressive­n Erkrankung auf. Dabei werden Mutlosigke­it, Nervosität, Erschöpfun­g und Schlaflosi­gkeit genannt. Die Studienaut­oren der AOK-Krankenkas­sen fordern daher einen Ausbau des psychother­apeutische­n Angebots für Geflüchtet­e. Denn die derzeitige Versorgung­slage ist sowohl für die erwachsene­n Geflüchtet­en als auch für jene im Kindes- wie Jugendlich­enalter mangelhaft. In Deutschlan­d zeigen Erhebungen der bundesweit­en Arbeitsgem­einschaft der psychosozi­alen Zentren für Flüchtling­e und Folteropfe­r, dass die psychother­apeutische Versorgung der oft schwer traumatisi­erten Asylwerber durch die komplizier­ten und einschränk­enden Vorgaben und die langen Bearbeitun­gszeiten von Therapiean­trägen erschwert wird.

Für Österreich liegen dazu kaum Studien vor. Doch es ist davon auszugehen, dass die Lage hier nicht viel besser als in Deutschlan­d ist. Zeichnet sich eine psychische Erkrankung ab, ist ein rascher Zugang zu Behandlung­smöglichke­iten wichtig. Ein unbearbeit­etes Trauma kann unter Umständen lang nachwirken.

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