Heucheln über Massen
Tourismus. Meist rümpfen nur gut Situierte über zu viele Reisende die Nase. Wollen sie womöglich ihr Privileg zurück?
Meist rümpfen nur gut Situierte über zu viele Reisende die Nase.
Es ist oft verräterisch, welche Worte wir wählen. Für Reisegäste haben wir gern militärisches Vokabular parat: einfallende Horden, Vormarsch, Invasion. Oder wir sehen sie als Naturkatastrophen über uns hereinbrechen, als Schwärme oder als Flut, die uns überschwemmt. Entsprechend kämpferisch sind mancherorts die Reaktionen. „Warum heißt es Touristensaison, wenn man sie nicht erschießen kann?“, fragt sich ein Sprayer in Lissabon. In Barcelona schlitzen ihnen Aktivisten die Reifen auf, Menschenketten versperren den Zugang zum Strand. Grassierende Gastfeindschaft wird auch fern der überfüllten Innenstädte mit Verständnis, ja wohlwollend rezipiert.
Das ist doch seltsam. Denn der Tourist ist in aller Regel ein friedliches, freundliches, fröhliches Wesen. Auch wenn sein Programm noch so primitiv ist: Schon indem er verreist, zeigt er Neugier und zumindest Spuren von Respekt vor fremden Kulturen. Dass die Europäer nicht mehr daran denken, sich zu bekämpfen, hat viel damit zu tun, dass sie sich auf Reisen kennengelernt haben, dass sie weltoffen geworden sind.
Vor allem aber gilt es als eminent emanzipatorischer Akt, dass sich Menschen aller Schichten einen Urlaub, eine Auszeit vom Alltag leisten können – was früher das Privileg einer kleinen Oberschicht war. Es sind freilich auch heute die Bessergestellten, die ihre Nasen rümpfen. Das weckt einen Verdacht: Hinter den Klagen steckt ein Ressentiment. Was sie selbst genossen haben, wol
len sie anderen nicht gönnen. Die schönsten Plätze hätten sie gern wieder für sich.
Das Jammern über den Tourismus ist freilich so alt wie er selbst. Schon Lord Byron beschwerte sich Anfang des 19. Jahrhunderts über die „Menge glotzender Tölpel“, die es wagten, zeitgleich mit ihm Rom zu besuchen. Die Touristen sind immer die anderen. Das Ich wähnt sich als Reisender, der Erfahrungen statt Souvenirs sammelt, seinen Horizont erweitert und die „Feinschmeckerei des Auges“pflegt, wie Balzac schrieb.
Kapitalismusopfer und „Globetrottel“
Der Aufbruch der nach Freiheit und Freizeit gierenden Massen startete in der Nachkriegszeit. Die Bildungs- und Geldeliten fühlten sich aus ihrem exklusiven Paradies vertrieben – und wichen aus. Dem vulgär gewordenen Capri zogen sie Ravello vor, statt in die Toscana fuhren sie ins Friaul.
Bald aber waren diese Ersatzziele ebenso überlaufen. Immer dürftiger wurden die Destinationen, die in kultivierten Kreisen noch Prestige versprachen. Schließlich schwärmten die Putzfrau und der Postmann von Paris, wo man selbst schon ewig nicht mehr war. Da brach sich das Ressentiment freie Bahn. Es kleidete sich anfangs gern in die aufklärerische Attitüde der Kapitalismuskritik. Hans Magnus Enzensberger dozierte 1958 in seiner „Theorie des Tourismus“, die „Flut“bleibe eine vergebliche „Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaftsverfassung uns umstellt“. Aber die Belehrung über den „Massenbetrug“hielt die betrogenen Massen nicht davon ab, weiter begeistert zu reisen – bis heute. Und es werden immer mehr, nun auch Russen, Chinesen, Brasilianer. Der Ton der Klage dreht auf schrill, die Opfer gelten nun als Täter: Entsetzlich, die Exzesse dieser „Globetrottel“! In Flip-Flops zerlatschen sie die schönsten Küstenpfade, lassen Altstädte zu Vergnügungsparks verkommen, gehen im Bikini in die Kirche, baden in der Fontana di Trevi, köpfeln in Venedigs Kanäle!
Doch auch wenn hinausposaunte Einzelfälle das Blut sehr schön in Wallung bringen: Die meisten Touristen sind zivilisiert und verwirklichen sich die gleichen Träume wie Generationen von Vorausgereisten – einmal im Leben die „Mona Lisa“sehen, auf der Karlsbrücke stehen, den Petersdom betreten.
Auf den Kopf gestellter Klassenkampf
Unsere Großeltern agierten auf ihren ersten Autoreisen nach Italien auch nicht als feinfühlige Kulturbotschafter. Uns stören SelfieStick-Paraden? Vor dem Bierbauch baumelnde klobige Canons waren nicht weniger peinlich. Der Instagram-Hype? Man gedenke der tödlich langweiligen Diaabende, zu denen Bekannte uns einst verdonnerten. Oft wirken Asiaten, die erstmals nach Europa kommen, vor Ort leicht deplatziert. Aber verglichen mit europäischen Sextouristen in Thailand sind sie dann doch meist Musterschüler im Fach Vergnügungsreisen.
Am stärksten ist der Verdacht auf Heuchelei bei der Sorge um Innenstadtbewohner. Von „Klassenkampf“ist da gern die Rede, was die Verhältnisse auf den Kopf stellt: Attraktive Altstädte sind (wenn sie es je waren) keine volkstümlichen Arbeiterbezirke mehr. Dort wohnt, wer es sich leisten kann, und stört sich an Gästen, die sich ihre Busreise mühsam ersparen mussten. Oder an Mietern von Apartments, die sich auf Zeit in den Alltag einer Stadt einfühlen wollen. Sicher ist der „Overtourism“in besonders betroffenen Städten ein ernstes Thema. Aber für allseits beachtete soziale Probleme scheint es bessere Kandidaten zu geben.
Bhutan geht jedenfalls voran. Das Land im Himalaja hat viele Fans, weil es sich Glück statt Wachstum auf die Fahnen geschrieben hat. Aber die Tourismussteuer ist so hoch, dass nur begüterte Reisende Zutritt erlangen. Vom Ende des egalitären Reisens träumen wohl auch insgeheim viele Kritiker des Massentourismus: Einmal wieder auf einem halb leeren Markusplatz sitzen, auch wenn der Kaffee im Florian 50 Euro kosten mag, das wär es uns wert! Sie seien an Alexander von Humboldt erinnert: „Die gefährlichste Weltanschauung haben Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“Von denen sollte es wirklich nicht zu viele geben.