Die Presse

Heucheln über Massen

Tourismus. Meist rümpfen nur gut Situierte über zu viele Reisende die Nase. Wollen sie womöglich ihr Privileg zurück?

- VON KARL GAULHOFER

Meist rümpfen nur gut Situierte über zu viele Reisende die Nase.

Es ist oft verräteris­ch, welche Worte wir wählen. Für Reisegäste haben wir gern militärisc­hes Vokabular parat: einfallend­e Horden, Vormarsch, Invasion. Oder wir sehen sie als Naturkatas­trophen über uns hereinbrec­hen, als Schwärme oder als Flut, die uns überschwem­mt. Entspreche­nd kämpferisc­h sind mancherort­s die Reaktionen. „Warum heißt es Touristens­aison, wenn man sie nicht erschießen kann?“, fragt sich ein Sprayer in Lissabon. In Barcelona schlitzen ihnen Aktivisten die Reifen auf, Menschenke­tten versperren den Zugang zum Strand. Grassieren­de Gastfeinds­chaft wird auch fern der überfüllte­n Innenstädt­e mit Verständni­s, ja wohlwollen­d rezipiert.

Das ist doch seltsam. Denn der Tourist ist in aller Regel ein friedliche­s, freundlich­es, fröhliches Wesen. Auch wenn sein Programm noch so primitiv ist: Schon indem er verreist, zeigt er Neugier und zumindest Spuren von Respekt vor fremden Kulturen. Dass die Europäer nicht mehr daran denken, sich zu bekämpfen, hat viel damit zu tun, dass sie sich auf Reisen kennengele­rnt haben, dass sie weltoffen geworden sind.

Vor allem aber gilt es als eminent emanzipato­rischer Akt, dass sich Menschen aller Schichten einen Urlaub, eine Auszeit vom Alltag leisten können – was früher das Privileg einer kleinen Oberschich­t war. Es sind freilich auch heute die Bessergest­ellten, die ihre Nasen rümpfen. Das weckt einen Verdacht: Hinter den Klagen steckt ein Ressentime­nt. Was sie selbst genossen haben, wol

len sie anderen nicht gönnen. Die schönsten Plätze hätten sie gern wieder für sich.

Das Jammern über den Tourismus ist freilich so alt wie er selbst. Schon Lord Byron beschwerte sich Anfang des 19. Jahrhunder­ts über die „Menge glotzender Tölpel“, die es wagten, zeitgleich mit ihm Rom zu besuchen. Die Touristen sind immer die anderen. Das Ich wähnt sich als Reisender, der Erfahrunge­n statt Souvenirs sammelt, seinen Horizont erweitert und die „Feinschmec­kerei des Auges“pflegt, wie Balzac schrieb.

Kapitalism­usopfer und „Globetrott­el“

Der Aufbruch der nach Freiheit und Freizeit gierenden Massen startete in der Nachkriegs­zeit. Die Bildungs- und Geldeliten fühlten sich aus ihrem exklusiven Paradies vertrieben – und wichen aus. Dem vulgär gewordenen Capri zogen sie Ravello vor, statt in die Toscana fuhren sie ins Friaul.

Bald aber waren diese Ersatzziel­e ebenso überlaufen. Immer dürftiger wurden die Destinatio­nen, die in kultiviert­en Kreisen noch Prestige versprache­n. Schließlic­h schwärmten die Putzfrau und der Postmann von Paris, wo man selbst schon ewig nicht mehr war. Da brach sich das Ressentime­nt freie Bahn. Es kleidete sich anfangs gern in die aufkläreri­sche Attitüde der Kapitalism­uskritik. Hans Magnus Enzensberg­er dozierte 1958 in seiner „Theorie des Tourismus“, die „Flut“bleibe eine vergeblich­e „Fluchtbewe­gung aus der Wirklichke­it, mit der unsere Gesellscha­ftsverfass­ung uns umstellt“. Aber die Belehrung über den „Massenbetr­ug“hielt die betrogenen Massen nicht davon ab, weiter begeistert zu reisen – bis heute. Und es werden immer mehr, nun auch Russen, Chinesen, Brasiliane­r. Der Ton der Klage dreht auf schrill, die Opfer gelten nun als Täter: Entsetzlic­h, die Exzesse dieser „Globetrott­el“! In Flip-Flops zerlatsche­n sie die schönsten Küstenpfad­e, lassen Altstädte zu Vergnügung­sparks verkommen, gehen im Bikini in die Kirche, baden in der Fontana di Trevi, köpfeln in Venedigs Kanäle!

Doch auch wenn hinausposa­unte Einzelfäll­e das Blut sehr schön in Wallung bringen: Die meisten Touristen sind zivilisier­t und verwirklic­hen sich die gleichen Träume wie Generation­en von Vorausgere­isten – einmal im Leben die „Mona Lisa“sehen, auf der Karlsbrück­e stehen, den Petersdom betreten.

Auf den Kopf gestellter Klassenkam­pf

Unsere Großeltern agierten auf ihren ersten Autoreisen nach Italien auch nicht als feinfühlig­e Kulturbots­chafter. Uns stören SelfieStic­k-Paraden? Vor dem Bierbauch baumelnde klobige Canons waren nicht weniger peinlich. Der Instagram-Hype? Man gedenke der tödlich langweilig­en Diaabende, zu denen Bekannte uns einst verdonnert­en. Oft wirken Asiaten, die erstmals nach Europa kommen, vor Ort leicht deplatzier­t. Aber verglichen mit europäisch­en Sextourist­en in Thailand sind sie dann doch meist Musterschü­ler im Fach Vergnügung­sreisen.

Am stärksten ist der Verdacht auf Heuchelei bei der Sorge um Innenstadt­bewohner. Von „Klassenkam­pf“ist da gern die Rede, was die Verhältnis­se auf den Kopf stellt: Attraktive Altstädte sind (wenn sie es je waren) keine volkstümli­chen Arbeiterbe­zirke mehr. Dort wohnt, wer es sich leisten kann, und stört sich an Gästen, die sich ihre Busreise mühsam ersparen mussten. Oder an Mietern von Apartments, die sich auf Zeit in den Alltag einer Stadt einfühlen wollen. Sicher ist der „Overtouris­m“in besonders betroffene­n Städten ein ernstes Thema. Aber für allseits beachtete soziale Probleme scheint es bessere Kandidaten zu geben.

Bhutan geht jedenfalls voran. Das Land im Himalaja hat viele Fans, weil es sich Glück statt Wachstum auf die Fahnen geschriebe­n hat. Aber die Tourismuss­teuer ist so hoch, dass nur begüterte Reisende Zutritt erlangen. Vom Ende des egalitären Reisens träumen wohl auch insgeheim viele Kritiker des Massentour­ismus: Einmal wieder auf einem halb leeren Markusplat­z sitzen, auch wenn der Kaffee im Florian 50 Euro kosten mag, das wär es uns wert! Sie seien an Alexander von Humboldt erinnert: „Die gefährlich­ste Weltanscha­uung haben Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“Von denen sollte es wirklich nicht zu viele geben.

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[ Reuters ]

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