Der Überlebenskampf der IS-Opfer
Verbrechen an Jesiden. Vor fünf Jahren versuchte der IS, die Minderheit im Irak zu vernichten. Der jesidische Aktivist Mirza Dinnayi schildert, unter welchen Folgen die Menschen heute leiden.
Sie kamen in der Nacht mit ihren Geländefahrzeugen, drangen in die schutzlosen Dörfer und Städte im nordirakischen Sinjar-Gebirge ein. Dort trieben sie Frauen und Kinder zusammen und verschleppten sie. Die Männer wurden erschossen. Vor fünf Jahren, Anfang August 2014, hatten die Extremisten des sogenannten Islamischen Staats (IS) ihren Vernichtungsfeldzug gegen die religiöse Minderheit der Jesiden gestartet. In den folgenden Tagen gingen schockierende Bilder um die Welt: von verzweifelten Menschen, die vor den Jihadisten in die Berge geflohen waren und in brütender Hitze auf Rettung warteten.
Mittlerweile wurde die Herrschaft des IS über weite Teile Syriens und des Irak beendet. Doch die Jesiden leiden nach wie vor unter den Folgen der Massenverbrechen, die von der UNO als Völkermord eingestuft werden. Bisher wurden im Nordirak etwa 80 Gräber gefunden, in denen die Opfer der Massaker vom IS verscharrt worden waren. In manchen der Gräber liegen nur vier bis fünf, in anderen Dutzende Leichen.
„2900 der Frauen und Kinder, die entführt wurden, werden noch immer vermisst. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist“, berichtet der jesidische Aktivist Mirza Dinnayi der „Presse“. Der Vorsitzende der Organisation Luftbrücke Irak hat vor fünf Jahren Evakuierungsflüge mit Hubschraubern zu den Eingeschlossenen in den Bergen organisiert.
Die verschleppten Jesidinnen wurden vom IS auf Sklavenmärkten verkauft. Jetzt – nach ihrer Befreiung – kämpfen sie nicht nur mit ihren traumatischen Erfahrungen. Viele Frauen wurden in der Gefangenschaft missbraucht. Sie haben mittlerweile Kinder geboren, deren Väter die Vergewaltiger sind. Kinder, die nun als Nachkommen des „Feindes“angesehen werden und auf Ablehnung stoßen.
„Ich habe mich dafür eingesetzt, dass diese Frauen und Kinder in die Gesellschaft aufgenommen werden“, erzählt der jesidische Aktivist Dinnayi. Das ist bei den Kindern aber nicht geglückt. Ihr weiteres Schicksal ist unklar.
Für die Kinder gibt es auch eine religiöse Hürde: Denn es kann nur dann jemand Jeside sein, wenn beide Elternteile Jesiden sind. Der Hohe Rat der Jesiden hat zunächst entschieden, diese Bestimmung für die Betroffenen aufzuheben, das dann aber nach Protesten wieder zurückgenommen.
Der Unmut ist nicht nur von Jesiden ausgegangen. Auch muslimische Geistliche und Abgeordnete haben dagegen gewettert, dass die Kinder in die jesidische Gemeinschaft aufgenommen werden. Laut irakischem Recht sind diese nämlich automatisch Muslime – weil ihr Vater Muslim oder unbekannt ist. Und eine Jesidin darf nicht Vormund eines muslimischen Kindes sein. „Mein Vorschlag ist, Kontingente dieser Frauen und Kinder ins Ausland zu holen, nach Deutschland oder Österreich“, sagt Dinnayi. „Damit sie dort endlich in Ruhe leben können.“
Auch fünf Jahre nachdem sie vor dem IS geflohen sind, hausen noch immer Zigtausende Jesiden in Lagern in Iraks Kurdenregion. „Weniger als 20 Prozent der Vertriebenen kehrten zurück“, berichtet Dinnayi. Die Infrastruktur des Sinjar-Gebiets, das die Kurden Shingal nennen, liegt nach wie vor in Trümmern. Zugleich herrscht bei den Jesiden tiefes Misstrauen gegenüber den früheren Nachbarn. Viele einstige IS-Kämpfer seien ganz einfach in ihre Dörfer rund um Sinjar zurückgekehrt. Iraks Justiz verfolge diese Personen nicht ausreichend, klagt Dinnayi.
Dazu kommt politische Unsicherheit. Nach der Vertreibung des IS wurde Sinjar vor allem von kurdischen Kräften kontrolliert. Im Oktober 2017 mussten die Anhänger der Kurdenführung in Erbil aber abziehen. Seither haben die wichtigen Schaltstellen in Sinjar Angehörige der sogenannten Volksmobilmachungskräfte inne – eines Dachverbands irakischer Milizen. Die Minderheit der Jesiden sitzt zwischen allen Stühlen.