Die Presse

Der Pakt der Todfeinde

August 1939. Vor 80 Jahren schlossen zwei ideologisc­he Gegenpole, Nazis und Sowjets, einen Vertrag, der den Weg in den Weltkrieg ebnete. Über Erinnerung­skultur und Tabus.

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Der Schriftste­ller Arthur Koestler war nach den stalinisti­schen Säuberunge­n der 1930er-Jahre bereits irre geworden am Kommunismu­s, aber was er im Sommer 1939 erlebte, gab ihm den Rest: Es war der 23. August, der Tag, an dem zu Ehren von Hitlers Außenminis­ter, Joachim von Ribbentrop, „die Hakenkreuz­fahne auf dem Moskauer Flughafen gehisst wurde und die Kapelle der Roten Armee das ,Horst-WesselLied‘ anstimmte. Damit war es Schluss: Von nun an war es mir wirklich egal, ob mich die neuen Verbündete­n Hitlers einen Konterrevo­lutionär schimpften“, so Koestler.

Was ihn so erschütter­te, war einer der wichtigste­n Verträge des 20. Jahrhunder­ts: ein Nichtangri­ffsvertrag, abgeschlos­sen für die Dauer von zehn Jahren, zwischen den ideologisc­hen Todfeinden, dem Nazi-Regime und Stalins Sowjetstaa­t. Die einzigarti­ge historisch­e Bedeutung des Hitler-StalinPakt­s: Aufgrund dieses Vertrags wurde der Zweite Weltkrieg entfesselt. Er war das Präludium, das atonale Vorspiel.

Kaum jemand wusste, wie sorgfältig alles vorbereite­t wurde. Daher löste die Nachricht einen Schock in Europa aus. „Wie eine Bombe“schlug das ein, schrieb Golo Mann. Das Land, das am meisten bangen musste, Polen, hielt das Bündnis der ideologisc­hen Erzfeinde für einen „Bluff großen Stils“. Es war in der Tat schwer zu verstehen und schwer zu ertragen. Doch ganz unerwartet kam es nicht.

In den letzten Wochen vor dem Kriegsausb­ruch wurde zu viel gepokert. Jeder verhandelt­e mit jedem, offiziell und hinter den Kulissen, jeder sprach vom großen Friedenswi­llen und wollte den anderen doch nur über den Tisch ziehen. „Natürlich ist das alles nur ein Spiel“, so Stalin im kleinen Kreis, „um festzustel­len, wer wen besser betrügen kann.“Es war ein Pokerspiel, das Europa in den Zweiten Weltkrieg führte.

Für die kommunisti­sche Bewegung war der Pakt wie ein Erdbeben, Freund und Feind waren über Nacht ausgetausc­ht, „für uns blieb die Kreml-Uhr stehen“, so die österreich­ische Kommunisti­n Ruth von Mayenburg, damals im Hotel Lux in Moskau. Dort lagen plötzlich in der Bibliothek Nazi-Zeitungen auf, das Wort Faschismus war aus der Sowjetpres­se getilgt. Es war, als hätte es nie einen Faschismus gegeben. Gläubige Kommuniste­n, unter ihnen viele Spanien-Kämpfer, verstanden die Welt nicht mehr. Stalin ein Verräter an der Sache? So weit wagte man nicht zu denken, man musste sich arrangiere­n, umdenken.

Stalin wusste, dass der Vertrag nicht leicht zu „verkaufen“war. Doch er bedeutete eine unglaublic­he Machtsteig­erung für ihn. Die Gefahr eines Bündnisses zwischen Deutschlan­d, Italien, England und Frankreich und damit die außenpolit­ische Isolation der Sowjetunio­n war hinfällig. Stalin war am Tisch der europäisch­en Großmächte, von dem er bei der Konferenz von München 1938 verbannt worden war. Noch einer war zufrieden: Hitler hatte den Angriffspl­an gegen Polen bereits fix und fertig in der Tasche. Der Pakt schützte ihn vor einem Zweifronte­nkrieg und erlaubte 1940 die Expansion nach Westeuropa. Dass auch die Deutschen verstört waren, beunruhigt­e nicht.

Dieser Pakt konnte nur eine Episode sein, doch 22 Monate lang bestimmte er den Krieg, im Osten wie im Westen Europas. Ende September war mit der Zerschlagu­ng Polens ein erstes Ziel erreicht. Doch der Nichtangri­ffsvertrag ist mehr als ein Schachzug des Dritten Reichs, der ihm den Feldzug gegen Polen ermöglicht­e. Er ist auch mehr als eine Möglichkei­t für Stalin, die Auseinande­rsetzung mit Hitler hinauszuzö­gern und die gewonnene Zeit für die Aufrüstung zu nützen. Nicht bekannt war den Zeitgenoss­en das berüchtigt­e geheime Zusatzprot­okoll, das die geopolitis­che Teilung Osteuropas besiegelte. Das Staatsgebi­et Polens sollte entlang der Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San geteilt werden, Lettland, Estland und Finnland sollten an Stalin fallen. Das waren also etwa die Grenzen des Zarenreich­es von 1914. So konnten die zwei Vertragspa­rtner, beide Verlierer des Vertrags von Versailles, alles wieder rückgängig machen.

Es war dieses Zusatzprot­okoll, das Osteuropa zu jenen „Bloodlands“machte, wie sie der Historiker Timothy Snyder in seinem berühmten Buch beschriebe­n hat. Hier kam zum Vorschein, was die beiden Regime verband: ein radikaler Herrschaft­s- und Vernichtun­gswille. Das Zusatzprot­okoll wurde von Moskau jahrzehnte­lang verschwieg­en und tabuisiert. Warum? Die Historiker­in Claudia Weber in ihrer brandneuen Studie (siehe Literaturt­ipp): Es habe mit dem „Unbehagen“zu tun, „hinter dem sich eine Ahnung verbirgt, dass der Hitler-Stalin-Pakt den manifesten Kanon der europäisch­en Weltkriegs­erzählung herausford­erte“. Auf sowjetisch­er Seite rüttelte der Pakt an einem zentralen Mythos des Großen Vaterländi­schen Kriegs. Enthüllte man die intime Verstricku­ng von Nationalso­zialismus und Stalinismu­s, wie würde sich dann die Diskussion um den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ändern?

Die Historiker­in weist darauf hin, dass sich Stalin bei seinem „verspätete­n Einmarsch“in Polen am 17. September 1939 dieser erinnerung­skulturell­en Folgen durchaus bewusst war. Zwei Wochen lang ließ er Hitler den „Vortritt“, um klarzustel­len: Der Beginn des Kriegs war Ergebnis nationalso­zialistisc­her Aggression­spolitik. Das war gut für die sowjetisch­e Geschichts­propaganda, wenn es in der Folge galt, sich als Friedensma­cht zu präsentier­en.

Während Gorbatscho­ws Glasnost-Politik gab man die sowjetisch­e Täterschaf­t beim Massaker von Katyn zu, in der Hoffnung, mit diesem ersten Schritt eine Diskussion um den Hitler-Stalin-Pakt zu verhindern. Man wollte auf keinen Fall Zweifel an der fundamenta­len Gegnerscha­ft von Nationalso­zialismus und Stalinismu­s zulassen. Auch im Westen war das Thema heikel. Stellte man die stalinisti­sche Gewalt auf eine Ebene mit der der Nationalso­zialisten, konnte das als Angriff auf die Singularit­ät des Holocaust missversta­nden werden.

Die Paktpartne­r damals wussten selbstvers­tändlich um die Halbwertsz­eit politische­r Allianzen. Am 22. Juni 1941 wurde die deutsche Öffentlich­keit informiert, dass der Hitler-Stalin-Pakt für das Reich zu einer politische­n Last geworden war. Ihn fortzusetz­en wäre ein Verbrechen am deutschen Volk. Fast teleologis­ch steuerte der Krieg auf diesen Moment zu, den Entscheidu­ngskampf zwischen den beiden Ideologien, der durch das unnatürlic­he Bündnis nur für einige Monate unterbroch­en werden musste. Nun konnte die Geschichte ihren Lauf nehmen. Es entsprach durchaus dem Zynismus des Regimes, dass man es dem Spiritus rector des Pakts, Joachim von Ribbentrop, überließ, die internatio­nale Presse von dem bevorstehe­nden „Kreuzzug“zu informiere­n.

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