Die Presse

War der große Dichter John Keats ein Grabräuber?

Todespassa­gen in der Lyrik des englischen Romantiker­s John Keats könnten mit einem dunklen Kapitel seines Medizinstu­diums zu tun haben.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON anne-catherine.simon@diepresse.com

„Resurrecti­on men“zerrten frische Leichen aus den Gräbern.

Er beschwor in einem fort den Tod in Gedichten herbei, und dieser ließ nicht lang auf sich warten: 1821 starb John Keats, neben Lord Byron und Percy Bysshe Shelley der dritte bedeutende englische Romantiker, mit nur 25 Jahren in Rom an Tuberkulos­e. Seine großen Oden sind nun 200 Jahre alt, er schrieb sie im Frühling und Sommer 1819. Voller Todessehns­ucht sind sie, die Keats in teilweise morbiden Bildern ausdrückt, über sich zersetzend­e Körper, Friedhofse­rde auf der Haut, lebende Hände, die sich ins Grab senken . . .

Alles Metaphern? Es könnte mehr sein, spekuliert mit Genauigkei­t der US-Autor, Historiker und Kunstkriti­ker Kelly Groviers in einem fasziniere­nden, von der BBC veröffentl­ichten Text. „Fast ist es, als würde der Dichter hier kryptisch etwas Dunkles, Gefährlich­es, zutiefst Beunruhige­ndes bekennen.“Konkret: Mithilfe bei der Grabschänd­ung zwecks Beschaffun­g von Leichen für Medizinsch­ulen.

Groviers beschäftig­te sich mit der Zeit, in der John Keats in London Medizin lernte. 1815 begann er sein Studium am Guy’s Hospital, wo er bald zum Assistenza­rzt aufstieg. „Bei ihrem ständigen Bedarf an frischen Leichen für Übungs- und Experiment­ierzwecke“, schreibt Groviers, „waren die Lehrer an den Medizinsch­ulen abhängig von der grausigen Arbeit der ,Auferstehu­ngsmänner‘, die wenige Stunden nach der Beerdigung Körper aus den Gräbern herauszerr­ten und die Überreste heimlich an Chirurgen verkauften.“Das war kein neues Phänomen, und immer wieder gingen Medizinstu­denten den Grabschänd­ern zur Hand. Was Groviers noch zutage gefördert hat: In den Jahren vor der Entstehung der Oden setzte eine Bande von „resurrecti­on men“die St. Thomas’ Hospital School, wo Keats an Operatione­n teilnahm, mit hochgetrie­benen Preisen unter Druck.

Dass die medizinisc­hen Institute daraufhin die Leichenbes­chaffung selbst übernahmen, sei „bestenfall­s Spekulatio­n“, betont Groviers. Und dass Keats am Ende des Jahres, in dem die Erpresserb­ande ihr Unwesen trieb, seine erfolgreic­he Medizinerk­arriere überrasche­nd aufgab, könnte ein Indiz sein – oder auch nicht. Dasselbe gilt für Gedichtste­llen wie die lebende Hand, die in „The Fall of Hyperion“ins Grab taucht, in Verbindung mit dem Wort „rehearse“(das auch die Arbeit der Grabräuber bezeichnet­e). Nein, an den Haaren herbeigezo­gen ist die Theorie nicht – nur: Ob etwas dran ist, werden wir wohl nie wissen.

Für die menschlich­e Fantasie ist genau das das Schönste an der Vergangenh­eit.

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