Barockoper, komplexer als manche TV-Serie
Innsbrucker Festwochen. Jubelstürme gab es für Broschis „Merope“unter Alessandro De Marchi und mit David Hansen in einer aberwitzigen Partie: Barockoper in mehr oder minder exakt historischem Erscheinungsbild.
Fünfeinhalb Stunden: Das wäre gar keine lange Spieldauer für eine FantasyMiniserie. Allein die Vorgeschichte von „Merope“würde genügend Stoff für ein Prequel im Stil von „Game of Thrones“hergeben. Da hat also der König von Messene einen Fiesling namens Polifonte in der Verwandtschaft, der ihn und alle seine Kinder ermorden lässt, Königin Merope als Anstifterin des Putsches in Verruf bringt und sich damit die Krone angelt. Alle seine Kinder? Nein, Epitide überlebt und wächst in der Fremde heran, wo er sich mit der ätiolischen Königstochter Argia verlobt. Polifonte entführt diese und will sogar Merope zur Ehe zwingen, um seinen Thronanspruch abzusichern. Ja, das ist alles noch Vorgeschichte – und nein, keineswegs die komplette. Insofern ist es kein Wunder, dass dann auch die Oper selbst fünfeinhalb Stunden braucht, um das komplexe Intrigennetz zu entwirren, wobei das Publikum – siehe TV-Serien-Dramaturgie! – beinah den halben dritten Akt lang bei ausdrucksvollen Trauerarien glauben muss, der eigentliche Held, Epitide, wäre tot. Erst dann stellt sich seine fingierte Hinrichtung als letzte List auf dem Weg zum „lieto fine“heraus . . .
Fünfeinhalb Stunden: Das dürfte selbst für Alessandro De Marchi einen Rekord darstellen, seines Zeichens Intendant der Innsbrucker Festwochen für Alte Musik und am Dirigentenpult ein erklärter Vollständigkeitsfanatiker. Diesmal hat er also die 1732 in Turin herausgebrachte „Merope“von Riccardo Broschi zur Eröffnungspremiere erkoren. Broschi komponierte sie nicht nur, aber auch für seinen Bruder, jenen hochberühmten Kastraten, dessen Künstlernamen auch Leute kennen, die nichts mit Barockoper am Hut haben: Farinelli. In dessen Bravourrolle des Epitide stößt der unerschrockene David Hansen vor allem in manch irrwitzigen Koloraturgirlanden an jene Grenzen, die seinem Countertenor in puncto Geläufigkeit und Tonschönheit gesetzt sind. Und auch die gloriose Vivica Genaux braucht als treuer Ratsherr Trasimede ein Weilchen, bis ihr die kleinen Noten gewohnt sprudelfreudig aus der Kehle dringen. Doch a` la longue überzeugen beide mit ihrer Ausdruckskraft, nicht zuletzt im Lyrischen. Das tut auch Anna Bonitatibus als würdevolle Merope, der etwas weniger virtuose Kunststücke abverlangt werden; dafür würzt sie ihren sonoren Gesang gezielt mit einer Prise realistischer Seelenangst.
Apropos Realismus: Aus Sigrid T’Hoofts Inszenierung ist ein solcher weitgehend verbannt, da sie sich mit mehr oder minder großen Freiheiten am Erscheinungsbild und den reglementierten Gesten des Barocktheaters orientiert. Es wird also scharwenzelt, geschritten oder stolziert, und je höher der Erregungspegel, desto mehr Serpentinen legen die Figuren auf der Bühne zurück. Schnell wird aber auch hier klar, dass es Historizität grundsätzlich nur als graduelle Annäherung geben kann: Kenner wissen einiges zu bemäkeln an den nicht korrekt zentralperspektivischen Bühnenbildern oder an manchen Stoffen und Schnitten der zugegeben prunkvollen Kostüme (Ausstattung: Stephan Dietrich). Da wird es zur szenischen Pointe, wenn einmal die Argia von Arianna Venditelli aus der hochadeligen Rolle fällt und die Hände mit buffa-artiger Resolutheit in die Hüften stemmt, was sogar zum herben Reiz ihres Soprans passt. Filippo Mineccia (Anasandro) und Hagen Matzeit (Licisco) sind die fähigen weiteren Countertenöre, und dass den Polifonte der Einspringer Carlo Allemanno vom Orchestergraben aus mit baritonalem Tenor poltert, während ihn Daniele Berardi auf der Bühne mimt, stört nicht.
De Marchis Gründlichkeit paart sich aber wie immer auch mit Fantasie: Das überlieferte Partiturgerippe hat er mit Holz, Blech, Pauken und Windmaschine nuanciert erweitert und sichert damit Broschis eleganter Melodik zusammen mit dem Innsbrucker Festwochenorchester abwechslungsreichen Wohllaut. Und da die originalen Tänze verloren gegangen sind, verwendet De Marchi ausgedehnte Ballettnummern von Jean-Marie Leclair und Carlo Alessio Rasetti, bei denen das Ensemble Corpo Barocco vor allem als Commedia-dell’arte-Truppe erfreut.
Fünfeinhalb Stunden! „Bist du toll? Man hat doch nicht so viel Zeit“, wollte man mit Hans Castorp zu Beginn ausrufen. Aber wie dieser auf dem „Zauberberg“schwingt man sich durchaus ein auf die exorbitante Dauer. Man hat ja ausreichend Gelegenheit dazu.