19. August 1989. Flucht in den Westen
Ein Ereignis von Weltrang an der Grenze von Ungarn zu Österreich.
„Am 19. August 1989 öffnete ein unterdrücktes Volk sein Gefängnis, um einem anderen unterjochten Volk zur Freiheit zu verhelfen.“
19. August 1989. An der ungarischösterreichischen Grenze nächst Sopron nutzen Hunderte DDRBürger das Paneuropäische Picknick zur Flucht in den Westen. Der Kollaps des Ostblocks kündigt sich an. Ein Ereignis von Weltrang – und wie heute daran gedacht wird.
Südlich des Grenzüberganges zwischen Sankt Margarethen im Burgenland und Sopron wird fleißig gearbeitet: Zum 30. Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks vom 19. August 1989 wird die dortige Gedenkstätte um ein Cafe´ und eine Ausstellung erweitert. Die erklärenden Tafeln werden erneuert. In Sopron selbst steht in diesem Sommer eine Nachahmung des Eisernen Vorhanges samt Wachturm.
Schon 1985 hatte der neue sowjetische KP-Generalsekretär Michail Sergejewitsch Gorbatschow mit seiner Politik der Reformen („Glasnost“und „Perestroika“, also „Offenheit“und „Umbau“) begonnen und den Führern der Satellitenstaaten mehr Handlungsspielraum gewährt. In Ungarn erhielten die Staatsbürger 1988 „Weltpässe“, mit denen sie in den Westen reisen konnten. Das System von Wachtürmen und technischen Sperren entlang der ungarischösterreichischen Grenze diente ab da nur noch dazu, die Bürger aus „Bruderländern“von der Flucht in den Westen abzuhalten. Der Abbau begann am 2. Mai 1989.
Im Westen nahm man von dieser Entwicklung kaum Notiz. Erst als es am 27. Juni zum Fototermin zwischen Klingenbach und Sopron kam, bei dem die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn symbolisch den Eisernen Vorhang durchtrennten, löste dies eine Kettenreaktion aus. Tausende DDRBürger reisten im Sommer 1989 nach Ungarn, um über die grüne Grenze in den Westen zu gelangen. Hunderte suchten in den westdeutschen Botschaften in Budapest und Prag Zuflucht. In Polen hatten schon im Februar Gespräche zwischen Vertretern der
Regierung und der Opposition begonnen; am 4. Juni fanden die ersten teilweise freien Wahlen statt. In Rumänien hingegen hatte sich die Lage vor allem der ungarischen Minderheit seit 1988 drastisch verschlechtert. Als Reaktion auf das Programm zur „Systematisierung“(kleinere Dörfer wurden zerstört, die Bevölkerung wurde zwangsweise in zentrale Orte umgesiedelt) flüchteten Zehntausende aus Siebenbürgen nach Ungarn.
Die Entwicklungen in Rumänien inspirierten ungarische Oppositionelle, vor allem die des Demokratischen Forums (MDF), im Juni 1989, an einer Grenze ein gemütliches Beisammensein mit Speckbraten zu inszenieren, um die Vision eines geeinten und freien Europas zu beschwören – daher der Name „Paneuropäisches Picknick“.
Als Schirmherren gewannen die Organisatoren den ungarischen Staatsminister Imre Pozsgay, einen der führenden Reformkommunisten, und den Europaabgeordneten Otto Habsburg, der als Vertreter der ungarischen Interessen im Westen galt. Diese Veranstaltung sollte an der österreichischen Grenze zwischen Sankt Margarethen und Sopron stattfinden, wo die Straße seit 1948 durch ein Gittertor gesperrt war. Trotz der kurzen Vorbereitungszeit gelang es den Organisatoren, die Genehmigung zu erhalten, das Gittertor am 19. August für drei Stunden zu öffnen. Unter schwierigen Umständen gelang es, 3000 Flugblätter (die Hälfte in deutscher Sprache) zu drucken und zu verteilen.
Die Paneuropa-Union unter Otto Habsburg war in die Inszenierung des Picknicks selbst nicht eingebunden (Vertreter der Organisatoren reagieren daher allergisch auf die Bezeichnung „Paneuropa-Picknick“); wohl aber spielte sie bei der Vervielfältigung weiterer Flugblätter und deren Verteilung in Ungarn eine wichtige Rolle. Ottos Tochter Walburga erinnert sich noch, wie sie in Budapest DDR-Bürgern Flugzettel in die Hand gedrückt hat Als ungarische Grenzsoldaten einer der Organisatoren, erinnert, hatte man am Vortag das alte, total verrostete Vorhängeschloss ausgetauscht), wurden sie von einer Gruppe von rund 200 DDR-Bürgern überrascht, die auf das Tor zustürmten. Die sechs Grenzsoldaten verfügten zusammen nur über fünf Pistolen, und so entschloss sich Oberstleutnant A´rpa´d Bella, der Kommandant, gegen einen Gebrauch der Waffen (obwohl dieser nach den damals geltenden Vorschriften noch gerechtfertigt gewesen wäre). Weitere Flüchtlinge folgten; insgesamt überschritten an diesem Nachmittag zwischen 600 und 1000 Personen die Grenze (die Zahlenangaben schwanken). Von Sankt Margarethen fuhren sie mit eiligst organisierten Bussen zur westdeutschen Botschaft nach Wien, von wo aus sie mit Sonderzügen in die BRD gelangten. Anlässlich der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl, dass in Ungarn „der erste Stein aus der Mauer geschlagen“worden sei. 1991 schuf Laszl´o´ Nagy (nicht identisch mit dem MitOrganisator des Picknicks) an der Stelle des Picknicks eine der in Ungarn beliebten geschnitzten Holzstelen. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Gerd Gies, stiftete im Juni 1991 eine kleine Erinnerungstafel an „die historischen Ereignisse im Herbst 1989“. Der Verweis auf den Herbst erweiterte das Gedenken an dieser Stelle über das Picknick vom 19. August hinaus auf die dadurch (mit-)beeinflussten späteren Ereignisse.
Weitere Denkmäler folgten. 1997 verewigte sich Bad Wimpfen am Neckar mit zwei Gedenktafeln – die Stadt in BadenWürttemberg hatte 1951 die Patenschaft für die 1945 aus Sopron vertriebenen Deutschen übernommen; 1991 wurde daraus eine formelle Städtepartnerschaft. Dazu gesellten sich eine Pagode der japanischungarischen Freundschaftsgesellschaft und eine Glocke aus Debrecen (wo die Idee zum Picknick entstanden war) Verschiedene Be den sind. Ein (bescheidener) Nachbau des Grenzzaunes rundete die Gedenkstätte ab, zu der auch einer der so typischen Wachtürme gehört, die lange Symbol der geschlossenen Grenze gewesen waren. Die Stelle des Paneuropäischen Picknicks von 1989 wurde zum Picknick-Gedenkpark. Auf der österreichischen Seite der Grenze erinnern allerdings lediglich eine 1999 errichtete Tafel der Gemeinde Sankt Margarethen und ein Denkmal des Welt-Juristenverbandes an die Bedeutung dieses Orts.
Im Jahre 2000 kamen gegenüber der Picknick-Gedenkstätte eine Holzstele zur Erinnerung an den ungarischen Reformer Istvan´ Graf Szechenyi´ (1791–1860) und ein „Gedenkwald“der Ungarischen Akademie der Wissenschaften dazu. Am südlichen Ende des Parkplatzes erinnert ein „Millenniumskreuz“an die lange und wechselvolle Geschichte Ungarns.
Ohne direkten Bezug zu den Ereignissen von 1989 entwickelte sich die Stelle des Picknicks zum Ort der Erinnerung weit über die Grenzöffnung hinaus. Am 19. August 2004, 15 Jahre nach dem Picknick, enthüllte man im Rahmen einer großen Feier, zu der auch Otto Habsburg gekommen war, das vielleicht eindrucksvollste von allen hier entstandenen Denkmälern: Es stellt ein steinernes, halb geöffnetes Tor dar und symbolisiert so die Öffnung der Grenze.
Wesentlich größer war jenes Denkmal, das im August 2009 entstand. Zur Einweihung erschien sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das Werk des ungarischen Bildhauers Miklos´ Melocco stellt eine Gruppe von Gefangenen dar, die aus einem Gefängnis in die Freiheit steigen, während im Hintergrund ein monumentales Gebäude einstürzt. Teil des „A´ttöre´s“– „Umbruch“– betitelten Denkmals ist ein Stück der Berliner Mauer. „Am 19. August 1989 öffnete ein unterdrücktes Volk das Tor seines Gefängnisses, um einem anderen unterjochten Volk zur Freiheit zu verhelfen“, lautet die erklärende Inschrift an der Rückseite, mit dem Zusatz: „Zur Erinnerung an die Öffnung der Grenze 1989, die das Ende der Teilung Europas einleitete.“Der Ministerpräsident von 1989 der Reformkommunist Miklos´ Ne´
Zustimmung zu dem Picknick die Reaktion der Sowjetunion auf die Grenzöffnung testen wollen – er sprach von einem „Versuchsballon“. 2015 schließlich wurde die Gedenkstätte des Paneuropäischen Picknicks in die Liste des „Europäischen Kulturerbes“aufgenommen.
Verbleibt nur noch, zwei ziemlich versteckte Denkmäler zu erwähnen: jene nämlich, die das berühmte Durchschneiden des Eisernen Vorhangs vom 27. Juni 1989 zum Thema haben. Das erste, eine hohe Steinstele mit der symbolischen Darstellung einer gesprengten Kette, entstand 1991 am Grenzübergang zwischen Nickelsdorf und Hegyeshalom. Gestiftet hatte den Stein der Nationalratsabgeordnete Leopold Helbich. Zur Einweihung erschienen Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege. Dies war aber 1991 nicht mehr Gyula Horn, sondern der Historiker Geza´ Jeszenszky vom MDF. Vielleicht deswegen vermieden die erklärenden Tafeln neben dem Denkmal die Nennung Horns, der zwar „Reformkommunist“war, in Ungarn aber wegen seiner Zugehörigkeit zu den kommunistischen Schlägertrupps, die sich 1956 bei der Niederschlagung des Volksaufstands hervorgetan hatten, als Unperson gilt.
Nach dem Ausbau der A4 bis zum Grenzübergang versetzte man diesen Gedenkstein auf einen Autobahn-Parkplatz rund fünf Kilometer vom Grenzübergang entfernt. Inzwischen ist dieser Parkplatz geschlossen und die Zufahrt blockiert – das Denkmal ist damit gewissermaßen „weggesperrt“. Immerhin plant die Gemeinde Nickelsdorf am 31. August 2019 dort ein Fest mit der Nachbargemeinde.
Am 27. Juni 2004, 15 Jahre nach dem symbolischen Durchschneiden des Drahtzaunes, weihten Alois Mock und Gyula Horn einen im Auftrag der EUVertretung in Wien errichteten Gedenkstein ein. Obwohl die Inszenierung für die Fotografen einige Kilometer entfernt stattgefunden hatte, wählte man dafür den Ort des Picknicks, wo sich inzwischen ja schon zahlreiche Denkmäler angesammelt hatten. Der Gedenkstein – mit einer Reproduktion des berühmten Fotos – wurde feierlich enthüllt und gemeinsam mit einer Linde dem Bürgermeister von Sopron überantwortet.
Die Linde steht heute noch an dieser Stelle und ist mittlerweile zu einem stattlichen Baum gewachsen. Nicht so der Gedenkstein. Zuerst verschwand – um 2007 – die Reproduktion des Fotos, schließlich das Denkmal selbst. Es wurde 2012 – weiterhin ohne Bild – nahe der tatsächlichen Stelle des symbolträchtigen Fotos von 1989 aufgestellt. Offizielle Begründung für die Verlegung: der – sachlich tatsächlich falsche – Text, wonach die beiden Minister „an dieser Stelle“den „Eisernen Vorhang“durchschnitten hätten. Ich glaube aber weiterhin, der wahre Grund lag darin, dass auf dem Foto neben Mock eben Gyula Horn zu sehen war.
Das symbolische Durchschneiden des Zaunes am 27. Juni 1989 hatte dank der Bilder, die um die Welt gingen, eine historische Dimension – ohne dieses Ereignis und das Paneuropäische Picknick im August 1989 wäre die Entwicklung in Ostmitteleuropa zumindest langsamer verlaufen. Beide Denkmäler, die daran erinnern, aber stehen nicht mehr dort, wo sie errichtet worden sind – beide sind gewissermaßen gut versteckt.
Irgendwie passt das dazu, dass die Grenzen längst nicht mehr so offen sind, wie man sich das 1989 erhofft hat. Denn auch an der alten Ödenburger Straße bei Sankt Margarethen steht mittlerweile auf österreichischer Seite ein Container der Grenzpolizei.