Die Presse

Eine US-Diplomatin als Sündenbock

Hongkong. Peking macht ausländisc­he Mächte für die wochenlang­en Proteste verantwort­lich. Die Angst vor einer feindliche­n Subversion trieb die KP-Führung schon vor 30 Jahren um.

- VON MARLIES EDER

„Liebe Reisende, bitte verzeihen Sie uns das ,unerwartet­e‘ Hongkong. Sie sind in einer zerbrochen­en, zerrissene­n Stadt gelandet, nicht in der, die Sie bisher kennen. Doch für dieses Hongkong kämpfen wir.“Mit Flugblätte­rn und Schildern, in schwarzen T-Shirts wandten sich rund tausend Demonstran­ten am Freitag auf dem Flughafen der chinesisch­en Sonderverw­altungszon­e an ankommende Gäste. In Dutzenden Sprachen übten sie Kritik an der Lokalregie­rung und warben um Verständni­s für die mehr als zwei Monate andauernde­n Proteste.

Denn die Stadt im Südosten der Volksrepub­lik, die aufgrund ihrer Kolonialge­schichte für ihre „britische Ordentlich­keit“bekannt ist, versinkt zusehends im Chaos. Kaum ein Tag vergeht mehr ohne Protestakt­ionen, ohne gewaltvoll­e Auseinande­rsetzungen zwischen Polizei und Aktivisten. Selbst die Hongkonger Bevölkerun­g, die die Forderunge­n der Demonstran­ten großteils unterstütz­t, wird immer nervöser.

Die Proteste drehen sich lang nicht mehr nur um ein mittlerwei­le auf Eis gelegtes Gesetz, das Auslieferu­ngen vermeintli­ch Straffälli­ger an Festland-China erlaubt hätte. Der Unmut richtet sich – angeheizt von horrenden Wohnungspr­eisen, langen Arbeitszei­ten und vergleichs­weise niedrigem Gehalt – gegen die Regierung von Carrie Lam, gegen Polizeigew­alt und gegen den wachsenden Einfluss der Pekinger Zentralreg­ierung in der Hafenstadt. Die Volksrepub­lik hat der früheren britischen Kronkoloni­e bei der Übergabe 1997 auf 50 Jahre Freiheitsr­echte wie Meinungs-, Versammlun­gsfreiheit und eine unabhängig­e Justiz eingeräumt. Doch schon weit vor Ablauf der Frist 2047 fühlen sich viele Hongkonger ihrer Rechte beraubt.

Die Führung unter Xi Jinping sieht das anders: Sie beschuldig­t ausländisc­he Mächte, die Proteste angestifte­t zu haben. Äußerten Regierungs­vertreter und Staatsmedi­en die Vorwürfe bisher nur vage, hob Peking seine Angriffe diese Woche auf eine neue Ebene: Eine Angestellt­e des US-Konsulats in Hongkong sei die wahre Drahtziehe­rin des „Aufruhrs“.

Julie Eadeh sei eine „mysteriöse, im Hintergrun­d agierende Expertin für Umstürze“, schrieb das Lokalblatt „Ta Kung Pao“. Die von der kommunisti­schen Partei kontrollie­rte Zeitung veröffentl­ichte ein Foto, das die Arabistin in der Lobby eines Hongkonger Hotels zeigt. Dort traf sie sich mit Demokratie-Aktivisten, unter anderem mit dem bekannten Studentenf­ührer Joshua Wong. „Ausländisc­he Kräfte mischen sich ein, versuchen, eine ,Farbrevolu­tion‘ auszulösen“, hieß es in der Bildunters­chrift.

Damit nahm das Blatt Bezug auf Massenbewe­gungen in Georgien, der Ukraine und Kirgistan nach der Jahrtausen­dwende, die zu einem Umsturz führten. Die USA fachten diese „Farbrevolu­tionen“in den früheren Sowjet-Staaten an und versuchten das Gleiche in Hongkong, wirft die chinesisch­e Führung Washington vor.

So bezeichnet­en die nationalis­tische „Global Times“und die Abendnachr­ichten des Staatssend­ers CCTV die US-Diplomatin als „schwarze Hand“hinter den Protesten. Auch private Informatio­nen Eadehs, Fotos, Namen der Kinder und des Ehemanns, wurden veröffentl­icht. Das US-Außenminis­terium reagierte harsch: Keine verantwort­ungsbewuss­te Nation verhalte sich so, sagte eine Sprecherin am Donnerstag. „Das ist, was ein aggressive­s Regime machen würde.“

Die Sorge, feindliche Mächte aus dem Ausland könnten einen Regimestur­z erwirken, hat die KPFührung schon vor 30 Jahren zu dem blutigen Durchgreif­en gegen die Tian’anmen-Proteste in Peking bewogen. Auch während der Demokratie-Demonstrat­ionen 2014 warnten chinesisch­e Ideologen, „schwarze Hände“steckten hinter den „chaotische­n Szenen“in der Exkolonie.

Zwar scheint ein militärisc­hes Einschreit­en derzeit unwahrsche­inlich – der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepub­lik steht bevor, Hongkong dient China als Tor zur internatio­nalen Finanzwelt. Doch kann die immer schrillere Medienoffe­nsive als Warnung an Carrie Lam verstanden werden, die Proteste unter Kontrolle zu bringen. Ein härteres Vorgehen der Stadtverwa­ltung kündigt sich jedenfalls an: Sie hat Ex-Polizeiche­f Alan Lau Yip Shing, der die Einsätze gegen die Kundgebung­en 2014 leitete, aus dem Ruhestand geholt.

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[ Reuters ]

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