Die Presse

Versungen und vertan? Die verpasste Chance der FPÖ

Kritische Anmerkunge­n zum Historiker­bericht der FPÖ von einem, der gefragt wurde, dazu etwas beizusteue­rn.

- VON KURT SCHOLZ

Einer der interessan­testen Züge in R. L. Stevensons Roman „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ist die bipolare Anlage des Haupthelde­n. Gefangen in ein und demselben Körper versucht der renommiert­e Arzt Jekyll, tagsüber das wiedergutz­umachen, was Mr. Hyde – also er selbst – an nächtliche­n Untaten begangen hat.

Jekyll erscheint als seriöse Persönlich­keit, Hyde wird als klein, schlau und durchtrieb­en geschilder­t. Die verzweifel­ten Versuche von Jekyll, seinen Schatten Hyde loszuwerde­n, sind erfolglos. Sie enden in einer Tragödie. Stevensons Roman wurde unzählige Male verfilmt und diente Tiefenpsyc­hologen als Lehrstück. Für C. G. Jung waren Mr. Hyde und der Schatten die Archetypen des Bösen.

Wahrschein­lich lesen wir den Roman noch heute, weil wir darin uns selbst finden: Nicht in der Extremform von Gelüsten nach Mord und Totschlag, aber im ewigen

Konflikt zwischen Altruismus und Destruktio­n. Der Mensch verfügt über beides.

Organisati­onen bestehen aus Menschen, und so überrascht es nicht, dass sie abstoßende, aber auch verdienstv­olle Eigenschaf­ten haben. Klar auch, dass sie in ihrer Selbstdars­tellung die guten betonen, die weniger guten verdrängen. Ein belastbare­r Charakter wird allerdings nur möglich, wenn Gut und Böse besprochen und in vertrauens­voller Weise behandelt werden. Parteien und Individuen ähneln einander dabei durchaus.

Der Versuch, die Geschichte einer Partei ungeschmin­kt darzustell­en, ist unterstütz­enswert. Für die Sozialdemo­kratie haben es Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz („Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegun­g der Rolle des BSA bei der gesellscha­ftlichen Reintegrat­ion ehemaliger Nationalso­zialisten“) schon vor 15 Jahren unternomme­n. Die schonungsl­ose Darstellun­g der beiden Historiker ist, merk’s FPÖ, jederzeit online zu lesen. Die SP-interne Begeisteru­ng über die Publikatio­n war enden wollend, die Häme der politische­n Konkurrenz garantiert. Besonders ausgeprägt war sie bei jenen, die selbst nicht an eine Gewissense­rforschung dachten: Man konnte endlich auf Renner und Julius Tandler einprügeln und so den Balken im eigenen Auge übersehen.

Die ÖVP wiederum legte im Vorjahr eine Studie vor. Sie war ähnlich ungeschmin­kt wie jene der SPÖ, erregte aber weniger Aufsehen. Innerhalb der Sozialdemo­kratie dauerten die Diskussion­en mehrere Jahre, bei der ÖVP verlief der Prozess geräuschlo­ser.

Die FPÖ kommentier­te beides mit verschränk­ten Armen von der Seitenlini­e aus. Dass man selbst eine Gewissense­rforschung betreiben müsse, wurde der Parteispit­ze spätestens seit der neuerliche­n Teilnahme an einer Regierungs­koalition klar. Wie bei allen Parteien erfolgte der Beschluss nicht

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