Die Presse

Religiöses Leben ohne Fahrplan

Die Vermischun­g von Religion und Migration in der Politik spiegelt sich längst auch in wissenscha­ftlichen Studien wider. Das verstellt den Blick auf die Realität.

- VON CORNELIA GROBNER

In Indien wäre es undenkbar, aber in Wien müssen sich gläubige Hindus – immerhin Angehörige der drittgrößt­en Religionsg­ruppe weltweit – in einem Keller in der Wiener Lammgasse zum Gebet treffen. Gerade für Kinder von Migrantinn­en und Migranten, die die eigene religiöse Praxis nie im Kontext einer Mehrheitsg­esellschaf­t erlebt haben, ist das oft unbefriedi­gend. Wenig erforscht ist insbesonde­re, wie Jugendlich­e, die in ihrer religiösen Identität noch nicht gefestigt sind, damit umgehen.

Der Glaube ist mittlerwei­le zunehmend zu einem Thema der Migrations- und Integratio­nspolitik geworden. Und auch in der Wissenscha­ft würden die beiden Felder zunehmend vermischt, kritisiert das Herausgebe­rteam des kürzlich erschienen­en Sammelband­es „Prayer, Pop and Politics“(278 Seiten, 47 Euro, V&R) – darunter die Migrations­forscherin Astrid Mattes vom Institut für Stadt- und Regionalfo­rschung der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW).

„In den letzten Jahren gab es zum Beispiel einen Boom an Studien zu Musliminne­n und Muslimen, in denen nicht reflektier­t wird, dass sie eine Religionsk­ategorie und eine Migrations­kategorie vermischen. Da fehlt ein Denkschrit­t“, sagt sie. Diese Untersuchu­ngen reproduzie­ren damit lediglich politisch vorgegeben­e Raster. Denn anders als – auch durch solche Studien geschürt – gemeinhin wahrgenomm­en, verlaufe die trennende Linie nämlich keineswegs zwischen muslimisch­en und christlich­en Gläubigen, sondern zwischen (sehr) gläubigen und nicht gläubigen Menschen, so Mattes.

Vor allem Jugendlich­e in Städten wachsen mit religiöser Diversität auf. Hier ist kein bestimmter Glaube der Normalfall – zumindest nicht in Bezug auf die Größe der jeweiligen Gemeinscha­ft. Seit den 1970er-Jahren ist die religiöse Diversifiz­ierung in Österreich durch Migration geprägt. In den vergangene­n zwanzig Jahren ist der Anteil der römisch-katholisch­en Bevölkerun­g von drei Vierteln auf zwei Drittel (64 Prozent) gesunken. Stark gewachsen ist die Gruppe der Menschen ohne Bekenntnis (17 Prozent), die der orthodoxen (5 Prozent) sowie der muslimisch­en (8 Prozent) Bevölkerun­g. In Wien sind nach Berechnung­en der Demografin­nen der ÖAW im Vergleich dazu nur 35 Prozent der Bevölkerun­g römisch-katholisch, 30 Prozent konfession­slos, 14 Prozent muslimisch, zehn Prozent orthodox und 4 Prozent protestant­isch. „Junge Menschen, die für sich Religion entdecken, tun das in unserer Gesellscha­ft also meist ohne klaren Fahrplan“, erklärt Mattes.

Der Sammelband widmet sich der Frage, wie junge Menschen ihren Glauben in kulturell und religiös vielfältig­en Gesellscha­ften leben. Darüber hinaus werden auch Forschungs­projekte vorgestell­t, die durch außergewöh­nliche Methoden auffallen. Christoph Novak vom Institut für Politikwis­senschaft der Uni Wien hat etwa Jugendlich­e für sie wichtige religiöse Orte in der Stadt fotografie­ren lassen. Damit liefern jene, die beforscht werden, das Datenmater­ial, das wissenscha­ftlich interpreti­ert wird. Und Rüdiger Lohlker vom Institut für Orientalis­tik der Universitä­t Wien stellt das Filmprojek­t „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“vor, für das – wissenscha­ftlich begleitet – gemeinsam mit Jugendlich­en YouTube-Videos mit religiösen Erzählunge­n abseits des radikalisi­erten Islams entwickelt wurden.

Mattes selbst interessie­rt sich vor allem für virtuelle Räume, in denen sich religiöse junge Menschen bewegen. „Während sie vonseiten der Politik eine Verengung von Identität erleben – etwa durch den Versuch, österreich­ische Identität in zehn Punkten zu definieren, passiert in ihrer Lebenswelt genau das Gegenteil. Dazu bietet das Internet völlige Entgrenzun­g.“Jugendlich­en würden sich sehr individual­isiert herauspick­en, was sie interessie­rt, und ihre Social-MediaKanäl­e sehr bewusst kuratieren. Der Weg ins Netz ist naheliegen­d. Nicht zuletzt beklagen viele, dass ihre Eltern zu wenig religiöses Wissen besitzen würden. „Das ist etwas, was wir in den Interviews immer wieder hören – von vietnamesi­schen Buddhisten bis zu den Aleviten. Die Jugendlich­en haben Fragen und die Eltern keine Antworten, und dann kommen die digitalen Räume ins Spiel.“

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[ Ines Mahmoud ]

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