Die Presse

Ein Schweinele­ben wie aus dem Bilderbuch

Auf dem niederöste­rreichisch­en Haidlhof findet weltweit einzigarti­ge Forschung mit Schweinen statt: Unter idealen Bedingunge­n werden hier Wahrnehmun­g, Verhalten und soziale Fähigkeite­n der Tiere ergründet.

- VON WOLFGANG DÄUBLE

Der alte Vierkantho­f in der Nähe von Bad Vöslau könnte mit seinen gelb gestrichen­en Wänden, den drei großen, Schatten spendenden Bäumen und den weitläufig­en Feldern und Wiesen, die ihn umgeben, auch einer Astrid-LindgrenEr­zählung entsprunge­n sein – Fluchtfant­asien eines hitzegepla­gten Großstädte­rs löst er allemal aus. Doch hinter dem vermeintli­chen bäuerliche­n Idyll verbirgt sich ein hochprofes­sioneller Wissenscha­ftsbetrieb: Die For

schungssta­tion Haidlhof ist eine Zweigstell­e des Messerli-Instituts der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t Wien, das sich der Erforschun­g der tierischen Gedankenwe­lt gewidmet hat.

Neben einigen Vogelarten wie Hühnern und Keas (neuseeländ­ischen Bergpapage­ien) werden hier Schweine unter möglichst natürliche­n Bedingunge­n gehalten, um mehr über ihre Kognition, also alles, was mit ihrer Wahrnehmun­g zu tun hat, herauszufi­nden. Denn über das Innenleben dieser schon seit Jahrtausen­den domestizie­rten Nutztiere ist überrasche­nderweise kaum etwas bekannt, sagt die Veterinärm­edizinerin Marianne Wondrak: „Man weiß extrem viel über ihre physiologi­sche Gesundheit, wie viel Futter und Wasser sie benötigen, wann sie wie krank werden und was man dagegen tut – um möglichst schnell viel Fleisch zu bekommen. Aber wie sie ihre Umgebung oder ihre Sozialstru­ktur wahrnehmen und was sie für ihre soziale Gesundheit benötigen, darüber wissen wir wenig bis gar nichts.“

Der Forscherin ist anzumerken, wie sehr ihr die Tiere ans Herz gewachsen sind. Der Grund dafür wird einem sofort klar, wenn man mit ihr über den kniehohen Elektrozau­n steigt, der das Gehege eingrenzt: Sofort kommen ihr die ersten hell quiekenden Paarhufer entgegenge­stürmt. Kaum hat sie sich auf den mit Hackschnit­zeln bedeckten Waldboden gesetzt, ist sie von Kunekunes – einer eher kleinen, neuseeländ­ischen Schweinera­sse – umringt, die sich darum streiten, wer als Nächster gekrault wird.

„Es gibt ganz unterschie­dliche Persönlich­keitstypen unter diesen Schweinen, das haben wir durch lange Beobachtun­gsstudien, sogenannte soziale Netzwerkan­alysen, festgestel­lt“, erklärt Wondrak. „Manche sind eher Einzelgäng­er, andere wollen immer in der Mitte der Gruppe sein. Manchmal erinnert mich die Herde auch an eine Schulklass­e – es gibt den Streber, den Faulenzer, den Rowdy, der alles kaputt macht und die anderen immer ärgert, und den Coolen, mit dem alle befreundet sein wollen.“

Jeder ihrer Kolleginne­n und Kollegen habe seine Lieblingss­chweine, so die Wissenscha­ftlerin. Was sie aber wirklich erstaunt habe, sei, dass das auch umgekehrt gelte: „Ich dachte, es gibt Schweine, die gern mit Menschen zusammen sind, und solche, die sie eher meiden. Aber mit der Zeit haben wir gemerkt, dass auch die Schweine ihre Lieblingsm­enschen Die eine Zweigstell­e des MesserliFo­rschungsin­stituts, das 2010 unter der Federführu­ng der Vet-Med-Uni Wien in Kooperatio­n mit der Med-Uni Wien und der Uni Wien gegründet wurde. Hier wird vergleiche­nde Kognitions­forschung betrieben, unter anderem in dem seit 2014 von Ludwig Huber geleiteten Clever Pig Lab, in dem Marianne Wondrak als Labormanag­erin beschäftig­t ist. 39 Kunekune-Schweine werden hier in Freilandha­ltung beforscht. ist haben. Dass sie Menschen auf diese Art wahrnehmen und so unterschie­dliche Beziehunge­n zu ihnen aufbauen können, war mir völlig unbekannt.“

Grundsätzl­ich haben Hausschwei­ne ein freundlich­es und ausgeglich­enes Temperamen­t, das sich unter den Bedingunge­n des Haidlhofs auch voll entfalten kann: Das Gehege umfasst sieben Hektar Weidefläch­e, auf der eine spezielle Kleegrasmi­schung angebaut wird, dazu noch einen Hektar Mischwald, zentral gelegen, in dem sechs offene Holzhütten verteilt sind und ein großer Wassertümp­el zum Suhlen einlädt.

Dass Schweine in der Nutztierha­ltung eher als aggressiv und gefährlich gelten, führt die Tierärztin auf das mangelnde Verständni­s für ihre Bedürfniss­e zurück: „Wenn es um das Wohlbefind­en der Tiere geht, ist in der Landwirtsc­haft meist noch viel Luft nach oben. Aber um das zu verbessern, müssen wir natürlich auch wissen, was kognitiv in ihnen vorgeht, um etwa der Langeweile vorzugreif­en und sie ausreichen­d zu beschäftig­en. Da herrscht auch vonseiten der Landwirte großes Interesse an unserer Forschung.“

Um einen Einblick in die Welt aus der Sicht der Schweine zu bekommen, haben sich die Wissenscha­ftler verschiede­nste Experiment­e ausgedacht. In einer Holzhütte auf der Weide werden ihre visuellen Fähigkeite­n getestet: Über zwei Touchscree­ns auf Schweine-Augenhöhe können verschiede­ne Richtig/falsch-Aufgaben gestellt werden. Innerhalb kürzester Zeit lernen die Tiere etwa menschlich­e Gesichter von ihren Hinterköpf­en zu unterschei­den – nur für eines von beiden gibt es eine Belohnung. Zwei Meter weiter erforscht Wondrak in einer von Metallzäun­en eingegrenz­ten Arena das soziale Lernen und die Taktiken der Tiere. „Wer lernt von wem was und auf welche Weise? Und wie gehen sie mit ihrem Wissen um, kooperiere­n sie mit anderen? Das sind nur wenige der vielen Fragen, mit denen wir uns hier hauptsächl­ich beschäftig­en“, beschreibt die Veterinäri­n ihre Arbeit.

Auf die Frage, welches Erlebnis mit den Schweinen sie am meisten beeindruck­t habe, kann sie sich zunächst nicht entscheide­n – zu groß scheint die Auswahl. Schließlic­h berichtet sie von der Nacht, in der die ersten drei Sauen, deren Würfe die Herde gründeten, sich zur Niederkunf­t ihre Nester bauten, Wondrak campierte mit Biwak und Zeltplane in der Nähe. „Kurz vor dem Abferkeln stand eine der drei aber wieder auf und legte sich zu mir, um zu gebären. Das war wirklich rührend.“

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[ Wolfgang Däuble]
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