Ein Schweineleben wie aus dem Bilderbuch
Auf dem niederösterreichischen Haidlhof findet weltweit einzigartige Forschung mit Schweinen statt: Unter idealen Bedingungen werden hier Wahrnehmung, Verhalten und soziale Fähigkeiten der Tiere ergründet.
Der alte Vierkanthof in der Nähe von Bad Vöslau könnte mit seinen gelb gestrichenen Wänden, den drei großen, Schatten spendenden Bäumen und den weitläufigen Feldern und Wiesen, die ihn umgeben, auch einer Astrid-LindgrenErzählung entsprungen sein – Fluchtfantasien eines hitzegeplagten Großstädters löst er allemal aus. Doch hinter dem vermeintlichen bäuerlichen Idyll verbirgt sich ein hochprofessioneller Wissenschaftsbetrieb: Die For
schungsstation Haidlhof ist eine Zweigstelle des Messerli-Instituts der Veterinärmedizinischen Universität Wien, das sich der Erforschung der tierischen Gedankenwelt gewidmet hat.
Neben einigen Vogelarten wie Hühnern und Keas (neuseeländischen Bergpapageien) werden hier Schweine unter möglichst natürlichen Bedingungen gehalten, um mehr über ihre Kognition, also alles, was mit ihrer Wahrnehmung zu tun hat, herauszufinden. Denn über das Innenleben dieser schon seit Jahrtausenden domestizierten Nutztiere ist überraschenderweise kaum etwas bekannt, sagt die Veterinärmedizinerin Marianne Wondrak: „Man weiß extrem viel über ihre physiologische Gesundheit, wie viel Futter und Wasser sie benötigen, wann sie wie krank werden und was man dagegen tut – um möglichst schnell viel Fleisch zu bekommen. Aber wie sie ihre Umgebung oder ihre Sozialstruktur wahrnehmen und was sie für ihre soziale Gesundheit benötigen, darüber wissen wir wenig bis gar nichts.“
Der Forscherin ist anzumerken, wie sehr ihr die Tiere ans Herz gewachsen sind. Der Grund dafür wird einem sofort klar, wenn man mit ihr über den kniehohen Elektrozaun steigt, der das Gehege eingrenzt: Sofort kommen ihr die ersten hell quiekenden Paarhufer entgegengestürmt. Kaum hat sie sich auf den mit Hackschnitzeln bedeckten Waldboden gesetzt, ist sie von Kunekunes – einer eher kleinen, neuseeländischen Schweinerasse – umringt, die sich darum streiten, wer als Nächster gekrault wird.
„Es gibt ganz unterschiedliche Persönlichkeitstypen unter diesen Schweinen, das haben wir durch lange Beobachtungsstudien, sogenannte soziale Netzwerkanalysen, festgestellt“, erklärt Wondrak. „Manche sind eher Einzelgänger, andere wollen immer in der Mitte der Gruppe sein. Manchmal erinnert mich die Herde auch an eine Schulklasse – es gibt den Streber, den Faulenzer, den Rowdy, der alles kaputt macht und die anderen immer ärgert, und den Coolen, mit dem alle befreundet sein wollen.“
Jeder ihrer Kolleginnen und Kollegen habe seine Lieblingsschweine, so die Wissenschaftlerin. Was sie aber wirklich erstaunt habe, sei, dass das auch umgekehrt gelte: „Ich dachte, es gibt Schweine, die gern mit Menschen zusammen sind, und solche, die sie eher meiden. Aber mit der Zeit haben wir gemerkt, dass auch die Schweine ihre Lieblingsmenschen Die eine Zweigstelle des MesserliForschungsinstituts, das 2010 unter der Federführung der Vet-Med-Uni Wien in Kooperation mit der Med-Uni Wien und der Uni Wien gegründet wurde. Hier wird vergleichende Kognitionsforschung betrieben, unter anderem in dem seit 2014 von Ludwig Huber geleiteten Clever Pig Lab, in dem Marianne Wondrak als Labormanagerin beschäftigt ist. 39 Kunekune-Schweine werden hier in Freilandhaltung beforscht. ist haben. Dass sie Menschen auf diese Art wahrnehmen und so unterschiedliche Beziehungen zu ihnen aufbauen können, war mir völlig unbekannt.“
Grundsätzlich haben Hausschweine ein freundliches und ausgeglichenes Temperament, das sich unter den Bedingungen des Haidlhofs auch voll entfalten kann: Das Gehege umfasst sieben Hektar Weidefläche, auf der eine spezielle Kleegrasmischung angebaut wird, dazu noch einen Hektar Mischwald, zentral gelegen, in dem sechs offene Holzhütten verteilt sind und ein großer Wassertümpel zum Suhlen einlädt.
Dass Schweine in der Nutztierhaltung eher als aggressiv und gefährlich gelten, führt die Tierärztin auf das mangelnde Verständnis für ihre Bedürfnisse zurück: „Wenn es um das Wohlbefinden der Tiere geht, ist in der Landwirtschaft meist noch viel Luft nach oben. Aber um das zu verbessern, müssen wir natürlich auch wissen, was kognitiv in ihnen vorgeht, um etwa der Langeweile vorzugreifen und sie ausreichend zu beschäftigen. Da herrscht auch vonseiten der Landwirte großes Interesse an unserer Forschung.“
Um einen Einblick in die Welt aus der Sicht der Schweine zu bekommen, haben sich die Wissenschaftler verschiedenste Experimente ausgedacht. In einer Holzhütte auf der Weide werden ihre visuellen Fähigkeiten getestet: Über zwei Touchscreens auf Schweine-Augenhöhe können verschiedene Richtig/falsch-Aufgaben gestellt werden. Innerhalb kürzester Zeit lernen die Tiere etwa menschliche Gesichter von ihren Hinterköpfen zu unterscheiden – nur für eines von beiden gibt es eine Belohnung. Zwei Meter weiter erforscht Wondrak in einer von Metallzäunen eingegrenzten Arena das soziale Lernen und die Taktiken der Tiere. „Wer lernt von wem was und auf welche Weise? Und wie gehen sie mit ihrem Wissen um, kooperieren sie mit anderen? Das sind nur wenige der vielen Fragen, mit denen wir uns hier hauptsächlich beschäftigen“, beschreibt die Veterinärin ihre Arbeit.
Auf die Frage, welches Erlebnis mit den Schweinen sie am meisten beeindruckt habe, kann sie sich zunächst nicht entscheiden – zu groß scheint die Auswahl. Schließlich berichtet sie von der Nacht, in der die ersten drei Sauen, deren Würfe die Herde gründeten, sich zur Niederkunft ihre Nester bauten, Wondrak campierte mit Biwak und Zeltplane in der Nähe. „Kurz vor dem Abferkeln stand eine der drei aber wieder auf und legte sich zu mir, um zu gebären. Das war wirklich rührend.“