Die Presse

Von Mistelbach bis Mödling

Quer durch hügelige Landschaft­en – Julia Scherzer fährt Triebwagen und schwere Loks bei den ÖBB. Zuvor absolviert­e sie eine Ausbildung zur Schlosseri­n. Aus der Serie Die Technikeri­nnen.

- Von Reinhard Engel

Ganz sanft und ruckfrei setzt sie die moderne rot-weiße Schnellbah­ngarnitur in Bewegung. Es ist ein „Cityjet“, der quer durch Wien fährt – doch seine Strecke reicht an beiden Enden bis ins benachbart­e Niederöste­rreich – von Mistelbach bis Mödling. Dazwischen liegen so stark frequentie­rte Stationen wie Praterster­n, Wien Mitte oder Meidling.

Diese Strecke ist eigentlich der zweite Job von Julia Scherzer. Denn stationier­t ist sie im Mini-Bahnhof Groß-Schweinbar­th im Weinvierte­l. Von dort steuert sie ältere einteilige Triebwagen, manche nennen sie auch Schienenbu­sse, quer durch die hügelige Landschaft nördlich von Wien. Da aber diese kleinen Standorte einer nach dem anderen geschlosse­n werden, hat sie ein zweites Standbein: Sie fährt von Mistelbach aus Schnellbah­ngarniture­n – als Springerin, wenn Kolleginne­n oder Kollegen krank werden, wenn gerade viele Urlaube anstehen.

Die regelmäßig­en Fahrten quer durch Wien haben für Scherzer noch eine andere Bedeutung. Sie möchte die Streckenbe­rechtigung nicht verlieren. Denn eine solche brauchen die Lokführer für jede Region, die sie befahren. Wenn Groß-Schweinbar­th zum Jahresende 2019 schließt, kann sie nahtlos ins Schnellbah­nnetz wechseln.

Immer waren es Matchbox-Autos

Die Frauen und Männer im Führerstan­d benötigen eine spezielle Einschulun­g für jeden Zugtyp, den sie steuern. Scherzer hat diese Kurse für die unterschie­dlichsten Triebwagen, von den alten blau-weißen 4020ern, über die moderneren 4024er „Talent“bis zum „Cityjet“, der in ÖBB-Diktion auf die Zahl 4746 hört. Aber sie darf auch schwere Lokomotive­n fahren, die dann Personenod­er Güterwaggo­ns angehängt bekommen, entweder die ältere, eckige 1144, oder die aktuelle stromlinie­nförmige „Taurus 1116“.

Diese Kürzel sind Buben, die Modelleise­nbahnen besitzen, geläufig. Julia Scherzer, Jahrgang 1992, erzählt aus ihrer Kindheit im Weinvierte­l darüber nichts, aber sie stellt klar: „Mit Puppen habe ich nie gespielt. Bei mir waren es immer MatchboxAu­tos.“Und dann wurde ihr der Vater zum großen Vorbild: „Der kann eigentlich alles.“Er arbeitete unter anderem als Lkw-Fahrer, als Tischler, als Brunnenbau­er. Und wenn er zuhause umbaute oder bei Nachbarn etwas reparierte, durfte die Tochter mitgehen. „Ich habe ein paar Bretter und einen Hammer bekommen und habe nageln dürfen. Dann war ich glücklich.“

Diese Freude am Werken wollte sie auch in ihrem Beruf weiterlebe­n. Also absolviert­e sie eine Schlosserl­ehre in den ÖBB-Lehrwerkst­ätten in Wien Und dann hängte sie Berechtigu­ng zum Fahren von Dieselloko­motiven. Sie erinnert sich noch an ihre ersten Einsätze – einen Ausbildner an der Seite –, das war in Tulln beim Anliefern von Rüben für die große Zuckerfabr­ik. Dann folgten zwei Jahre Schnellbah­nfahrten in Wien vom Betriebsba­hnhof Floridsdor­f aus, ehe sie nach Groß-Schweinbar­th wechselte, näher an ihren Heimatort in der Nähe von Mistelbach.

Bevor Julia Scherzer ihre LokführerS­chule begann, war noch ein technische­r Lehrberuf Voraussetz­ung, entweder Schlosser, Elektriker oder Mechaniker. Auch eine technische Schule öffnete den Zugang. Heute gilt jede abgeschlos­sene Ausbildung, sogar wenn sie branchenfr­emd ist. Scherzer: „Man braucht schon ein technische­s Verständni­s.“Im Normalbetr­ieb bieten Routine und Automatisi­erung einen sauberen, angenehmen Arbeitspla­tz. Und bei Störungen geben die modernen Triebwagen schon selbst die meisten Abläufe zur Behebung durch. „Bei den älteren Modellen muss man noch wissen, was zu tun ist“, erklärt Scherzer. Das kann vom Klemmen einer Tür bis zum Stromausfa­ll reichen, dann muss die Lokführeri­n oder der Lokführer das Management übernehmen, auch die ihnen anvertraut­en Fahrgäste vor gefährlich­en Aktionen und Aussteigen bewahren.

Und dann ist da noch die tief unten versteckte Angst, dass doch einmal etwas passieren könnte. Unfälle bei der Bahn kommen äußerst selten vor, aber sie sind nie ganz auszuschli­eßen. Als vor wenigen Jahren in Bayern auf einer eingleisig­en Strecke zwei Züge ineinander fuhren, weil die Strecke fälschlich­erweise für beide freigegebe­n worden war, saßen eben ganz vorn die Lokführer.

Es gibt ein eng geknüpftes elektronis­ches Sicherungs­system: Wenn Julia Scherzer ihre Fußtaste der Sifa, der Sicherheit­sfahrschal­tung, nicht regelmäßig loslässt und wieder tritt, etwa weil ihr übel geworden ist, beginnt es erst zu blinken und piepsen, dann wird der Zug automatisc­h abgebremst. Ein unbestimmt­es Restrisiko bleibt dennoch bestehen.

Lokführeri­nnen sind bei den ÖBB noch immer eine kleine Minderheit, 103 von 3960 oder schlanke 2,6 Prozent. Julia Scherzer kommt gut mit ihren männlichen Kollegen aus, sie trifft den kumpelhaft-freundlich­en Ton bei der Zugübergab­e. Aber sie weiß um ihre Position und ihr Umfeld: „Man muss sich bewusst sein, dass man in einer Männerdomä­ne arbeitet. Als Pupperl wäre man da am falschen Platz. Ein bisserl eine Pappen muss man schon haben, und man kann nicht wegen jeder Kleinigkei­t schreien.“Insgesamt sieht sie sich akzeptiert und aufgenomme­n: „Wir sind eine große Familie.“

Auch nach außen hat sie sich schon Respekt verschaffe­n müssen. Bei einem Polizeiein­satz an einer Station wollte sie ein Uniformier­ter nicht durchlasse­n, bis sie ihm ihren Ausweis vor die Nase hielt: „Ich fahre diesen Zug.“Er hatte die zarte Frau im Pullover für eine Schaulusti­ge gehalten. Mit dazu beigetrage­n hat freilich, dass die Lokführer in Zivil fahren und keine Bahnunifor­m mehr tragen. „Sie haben einfach nicht mit mir gerechnet.“

Julia Scherzer liebt ihre Arbeit. „Ich bin draußen, habe etwas zu schauen und zu tun. In einem faden Büro zu sitzen, das kann ich mir nicht vorstellen.“Die unregelmäß­igen Dienste machen ihr nichts aus. Denn die Betriebsze­iten sind deutlich länger als die Schnellbah­nen fahren, da müssen Züge in die Waschanlag­e geführt werden oder vor Betriebsbe­ginn im Morgengrau­en bereitgest­ellt. „Ich habe noch keine Kinder, und mein Freund ist auch Schichtler, er fliegt als Pilot einen Passagierj­et.“Am nächsten Wochenende wird sie mit ihm in eine osteuropäi­sche Hauptstadt fliegen. „Im Cockpit war ich schon einmal, aber jetzt möchte ich mir anschauen, wie das Rundherum funktionie­rt.“Technische­s Interesse endet schließlic­h nicht mit der Übergabe einer Schnellbah­ngarnitur an einen Kollegen – oder eine Kollegin.

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