Salzige Sünden auf dem Jakobsweg
Der nordwestlichste Zipfel Spaniens lässt sich auch ohne Trekkingschuhe und Funktionswäsche erkunden. Hunger sollte man aber mitbringen: Galicien ist ein Meeresfrüchteparadies!
Sie gilt nicht nur als die hässlichste Delikatesse der Welt, sondern auch als eine, die den Menschen gefährliche Strapazen abverlangt: Die Entenmuschel, die eigentlich keine Muschel ist, sondern ein Krebstier, sieht aus wie der knöcherne Finger einer scheußlichen Bestie, mit schwarzer ledriger Haut und spitzen Krallen. Wer ihr salziges, saftiges Fleisch genießen will, riskiert nur, angespritzt zu werden, wenn er sie aufknackt. Wer sie sammelt, riskiert dabei sein Leben: Costa da Morte, Todesküste, heißt der Abschnitt in Galicien, der nordwestlichsten Region Spaniens, wo die Percebes – so heißen die Entenmuscheln hier – wachsen. Auf scharfkantigen Felsen, die vom Atlantik mit gewaltiger Kraft umspült werden und nur bei tiefster Ebbe aus dem Wasser ragen. Dann meißeln die Percebeiros, an Seilen
hängend und mit Gischt und Wellen kämpfend, ihre Beute vom Stein. Je wilder das Meer, desto besser gedeihen die Muscheln, lautet eine Grundregel. Immer wieder sterben Percebeiros beim Versuch, die teure Delikatesse – zu Spitzenzeiten, vor allem zu Weihnachten, liegt der Kilopreis im dreistelligen Bereich – zu ernten.
Von diesem Drama ist auf dem Fischmarkt von Pontevedra nichts mitzubekommen. Die Percebes liegen hier in Netzen zum Verkauf bereit, neben Mies- und Jakobsmuscheln, Tintenfischen und Garnelen, Kisten voller Sardinen und anderen Meeresbewohnern fein säuberlich aufgereiht und gestapelt unter dem halogenerleuchteten Gewölbe der Halle. Eine Verkäuferin im weißen Kittel bearbeitet einen Fisch, dass die Schuppen nur so fliegen, nimmt ihn aus, schneidet mit einer Schere die Flossen ab – all das, ohne hinzusehen, während sie sich mit ihrer Kundin unterhält. Pontevedra liegt am Caminho Portugues,ˆ dem aus Portugal führenden Jakobswegs, drei Tagesetappen vom Ziel Santiago de Compostela entfernt.
Die Pilgeratmosphäre ist omnipräsent in dieser Gegend, immer wieder begegnen einem Menschen in Trekkingschuhen, die mehr oder weniger erschöpft aus der knalligen Funktionswäsche schauen. Sie streben nach Selbstfindung, religiöser oder schlicht sportlicher Erfüllung – doch es gibt auch andere gute Gründe, nach Galicien (nicht Galizien, das wäre das Kronland in Polen/Ukraine) zu reisen. Die lokale Kulinarik ist einer davon: Galicien ist ein Meeresfrüchteparadies!
Die Möwen wissen Bescheid
Und so geht die Fahrt vom beschaulichen, weitgehend autofreien Pontevedra auf die nahe gelegene Halbinsel O Grove – und von dort via Boot aufs ruhige Wasser. Die Küste Galiciens ist extrem zerklüftet, sogenannte R´ıas ziehen sich tief ins Land: Flüssmündungen, die sich zu großen Meeresbuchten ausgebreitet haben. In ihnen scheinen die hölzernen Muschelbänke, die sogenannten Bateas, wie Flöße in unperfekten Anordnungen über das Wasser zu treiben.
In Wirklichkeit sind sie fest verankert – und sie müssen einiges aushalten: Am Holz hängen unzählige Seile, an denen Miesmuscheln haften, bis zu 200 Kilogramm pro Seil. Man mag es nicht glauben, wenn man durch die Unterwasserfenster des Ausflugsboots ins grünliche Gewimmel schaut, in das sich immer wieder ein Fischschwarm verirrt: In den galicischen R´ıas werden jährlich 250.000 Tonnen Miesmuscheln produziert, das ist mehr als ein Fünftel der weltweiten Menge.
Über Deck machen sich indessen die Möwen bereit, sie wissen, was jetzt kommt – und dass sie, wenn sie Glück haben, etwas davon abkriegen werden. Tatsächlich scheinen die Miesmuschelberge, die auf schlichten Metallplatten serviert werden, für unsere kleine Gruppe nicht zu bewältigen zu sein. Hier wurde nichts in Weißwein oder Tomatensauce ertränkt, die Muscheln wurden schlicht über wenig Wasser gedämpft. Dazu gibt es Weißbrot, den für die Gegend typischen trockenen, relativ sauren Albarin˜o-Weißwein und Blicke über die mit Bateas gefleckte Bucht. Wir mampfen, bis wir nicht mehr können. Den Rest fangen die Möwen im Flug.
Muscheln als Vorsorge
Auch Austern und Jakobsmuscheln – das Symbol für den Pilgerweg – wachsen an den Seilen der Bateas. Für galicische Familien sind diese oft so etwas wie eine Lebensversicherung: Die Lizenzen
zur Muschelzucht sind sündteuer und werden oft über Generationen weitervererbt. Viele Familien hier leben von Meeresfrüchtezucht und Fischfang. Die Havarie des Öltankers Prestige, der 2002 vor der Küste Galiciens Zigtausend Tonnen Schweröl verlor, war für sie eine Katastrophe.
Mittlerweile hat die Umwelt sich weitgehend erholt, der Ruf der galicischen Delikatessen ist ausgezeichnet. Nicht nur jenen aus dem Meer (oh, dieser köstliche Pulpo mit Olivenöl und Paprikapulver!), auch denen vom Land: Die Pimientos de Padron,´ diese gebratenen, mit grobem Meersalz bestreuten grünen Paprikaschoten, wurden in einem Franziskanerkloster unweit von Santiago „erfunden“, also kultiviert. Wer durch die grüne Landschaft fährt, erblickt immer wieder kleine Gewächshäuser, in denen sie aufgezogen werden.
Wein beim Drogenbaron
Oder Miniatur-Weinanbaugebiete: Die Landwirtschaft Galiciens ist auffällig kleinteilig, oft stehen nur wenige Rebenreihen vor alten Steinhäusern, manchmal säumen sie auch ein Gemüsebeet. Das Weingut Pazo Baion´ sticht mit seinen 22 Hektar Anbaufläche vergleichsweise hervor: Das Anwesen war einst von einem aus Argentinien zurückgekehrten Galicier gebaut worden, um 1990 wohnte darin der Drogenbaron und Schmuggelprofi Laureano Oubin˜a. Heute ist das herausgeputzte Areal vor allem als Hochzeitslocation beliebt, auf luftigen Pergolen wachsen die kleinen Albarino-˜Trauben, in ehemaligen Ställen werden sie verarbeitet (das Ergebnis kann dort auch verkostet werden).
Pazos wie dieses hier, also typische galicische Landhäuser, mit oder ohne Weinanbau, sind in der ganzen Region verteilt. Ein paar Kilometer weiter im Landesinneren liegt das noch immer zum Teil bewohnte Pazo de Oca mit seinem hübschen verwunschenen Garten voller Kamelien und Rhododendronbüschen.
Kaum Massentourismus
Dass man in Galicien – anders als etwa im Landesinneren Spaniens – keine trockene rote Erde, sondern üppige Vegetation vorfindet, ist dem milden Klima geschuldet: Nasse Winter und warme, aber unbeständige Sommer sorgen für grüne Ansichten. Und haben den Massentourismus weitgehend ferngehalten: Vom Mittelmeer-Boom, der Spanien seit den 1960er-Jahren viele Hotelburgen und eine lukrative Einnahmequelle bescherte, blieb Galicien lang unberührt. Das Pilgern erfreut sich in den vergangenen Jahren rasant steigender Beliebtheit, von Touristenmassen kann aber keine Rede sein. Dabei verfügt die Region über stolze 900 Strände auf fast 1700 Küstenkilometern – das ist länger als Andalusiens Küste.
Der Strand auf den unbewohnten C´ıes-Inseln wurde vom britischen „Guardian“einst gar zum besten der Welt gekürt. Eine Übertreibung ja, doch keine maßlose: Über feinen Granitund Quarzsand rollen hier ruhige türkise (und ordentlich kalte) Wellen, dahinter thronen Pinien und Eukalyptusbäume, ein kurzer Wanderweg führt auf Felsen, die atemberaubende Ausblicke auf die zerklüftete Insel, auf Strand und Lagune bieten.
Eine Bedrohung: Eukalyptus
„Ich arbeite im Paradies, ich weiß“, sagt Noa Suarez´ Garc´ıa, die uns durch den Nationalpark begleitet. Sie erzählt, wie man versucht, den einst eingeschleppten Eukalyptus, der die biologische Vielfalt bedroht und Waldbrände begünstigt, sanft wieder loszuwerden, ohne die Insel zu viel Erosion auszusetzen. Und sie berichtet von den kulinarischen Verlockungen, die das Wasser um uns bietet. Letztendlich kommt doch alles in Galicien zurück auf Fisch und Meeresfrüchte. Auf Percebes, auf Tintenfisch, auf die großen, saftigen Jakobsmuscheln. Ihr Mann habe einmal 14 davon gegessen, überbacken mit Zwiebeln, Bröseln und Olivenöl, sagt Noa, ist das zu glauben? Da könnte man glatt wieder Hunger bekommen.