Die Presse

„Xi Jinping ist gar nicht so wichtig“

Interview. Der rasante Aufstieg der Volksrepub­lik sei alles andere als überrasche­nd, sagt der Sinologe Harro von Senger. Um China zu verstehen, müsse man nur der KP-Führung zuhören.

- VON MARLIES EDER

Ein Staat, der sich in 50 Jahren aus bitterer Armut zur zweitgrößt­en Volkswirts­chaft mausert? Der trotz wirtschaft­licher Öffnung und zunehmende­m Wohlstand keinen demokratis­chen Weg einschlägt? Der vor Kurzem noch als Werkbank der Welt galt, unter einer autoritäre­n Führung zur Innovation­slosigkeit scheinbar verdammt, und heuer die erste Sonde auf die Rückseite des Mondes schickte?

Immer wieder sorgt es für Verwunderu­ng im Westen, dass die Volksrepub­lik den rasanten Aufstieg bewerkstel­ligt hat – und für Ernüchteru­ng, dass das bevölkerun­gsreichste Land der Erde seinen Weg ohne Demokratis­ierung vollzogen hat. Dabei sei die Entwicklun­g alles andere als überrasche­nd, meint der Sinologe und Jurist Harro von Senger, der während der Kulturrevo­lution in Peking studierte.

Denn, argumentie­rt der Schweizer, um China zu verstehen, müsse man zuhören, was die chinesisch­e Führung sage. Von Senger verweist etwa auf eine Rede von Hu Yaobang, dem ehemaligen Generalsek­retär der Kommunisti­schen Partei, von Jänner 1985: Bis 2049, 100 Jahre nach Gründung der Volksrepub­lik, wolle China die „höchstentw­ickelten kapitalist­ischen Länder in ökonomisch­er Hinsicht eingeholt haben“, sagte der KP-Chef damals. Heute ist China daran, dieses Ziel zu erreichen.

Dazu war jedes Mittel recht: Das Wachstum ging auf Kosten von Umwelt und von Millionen Wanderarbe­itern, die den Aufschwung durch ihre Arbeit in Fabriken, auf dem Bau, auf den Feldern erst möglich machten. Und China scheute nicht davor zurück, seinen Erfolg auf den technische­n Errungensc­haften anderer aufzubauen – Stichwort Technologi­etransfer und Industries­pionage.

Die Zauberform­el, die diese „Wunder“möglich mache, laute „die Kräfte fokussiere­n“, zitiert der 75-Jährige aus der Volkszeitu­ng von 2010. Sprich: Der Staat buttert sämtliche Ressourcen in die Erreichung eines übergeordn­eten Ziels. Denn seit jeher richtet die Kommunisti­sche Partei ihre Politik immer wieder aufs Neue nach einem sogenannte­n Hauptwider­spruch aus, den Staatsgrün­der Mao Zedong erstmals 1937 formuliert­e. Die KP-Führung passte ihn über die Jahre mehrmals an – zuletzt 2017 unter Staats- und Parteichef Xi Jinping.

War es in den 30 Jahren seit Beginn der Reformpoli­tik 1978 für Peking das Um und Auf, die materielle­n Grundbedür­fnisse der Bürger zu sichern, rückte vor zwei Jahren eine andere Aufgabe in den Fokus: Die Regierung will dem Volk bis 2049 ein „schönes und gutes Leben“verschaffe­n, heißt es in der Parteisatz­ung. Dort stehe indirekt auch geschriebe­n, dass das chinesisch­e Volk derzeit ein „miserables Leben“führe, meint von Senger. Die Partei gebe zu, dass die Bedürfniss­e der Bürger noch nicht erfüllt seien.

Auch das immer offensiver­e Auftreten Chinas in der Welt interpreti­ert der Sinologe im Zusammenha­ng mit dem Hauptwider­spruch: Peking verfolge eine rein innenpolit­ische Mission, den Wirtschaft­saufbau. Doch habe Chinas Innenpolit­ik „globale Kollateral­folgen“. Ein Beispiel sei die Seidenstra­ßeninitiat­ive. Das milliarden­schwere Infrastruk­turprojekt geriet wegen intranspar­enter Auftragsve­rgabe, mangelnder Umweltstan­dards und hoher Zinsen in Verruf. China wolle sich über Investitio­nen im Ausland politische­n Einfluss erkaufen, lautet die Kritik.

„Die Chinesen brauchen viele Wirtschaft­sbeziehung­en, damit sie mehr verkaufen können, damit sie das innenpolit­ische Hauptziel erreichen können“, sagt hingegen von Senger. Daher habe die Volksrepub­lik kein Interesse an einem Handelskri­eg oder politische­n Spannungen mit den USA. Ebenso wenig daran, die EU zu spalten: „Die innenpolit­ische Aufgabe – ein höheres Pro-Kopf-Einkommen, eine gute Umwelt, gesunde, nichtverse­uchte Nahrungsmi­ttel – ist gigantisch. Sie haben keine Zeit, sich Gedanken zu europäisch­er Innenpolit­ik zu machen. Die ist ihnen egal.“Nur wenn China direkt betroffen sei, etwa im Hinblick auf die Menschenre­chtslage, mische es sich „bestimmt ein“.

„Die Europäer sollen ruhiger sein mit den ständigen Anmahnunge­n“, sagt von Senger – auch im Hinblick auf die Proteste gegen den wachsenden Einfluss Pekings in Hongkong. „Europa hat versagt, in dem es die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion nie auf Hongkong ausgedehnt hat.“Denn, was oft vergessen werde: „China ist eine bekennende Diktatur.“Das stehe in der Verfassung. Und diese sichere Xi absolute Macht zu.

Der Diktator sei nicht mächtiger als seine Vorgänger, meint von Senger: „Ich finde Xi Jinping gar nicht so wichtig. Das ist wie mit Papst Franziskus. Alle glauben, er kann als Reformer unglaublic­he Sachen machen. Aber Xi ist genauso in Satzungen, die von der KP erlassen worden sind, eingebunde­n.“ ist Schweizer Jurist, Sinologe und Autor. Er unterricht­ete unter anderem an der Universitä­t Zürich und der Albrecht-Ludwigs-Universitä­t in Freiburg.

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