Netflix mischt britische Filmindustrie auf
Unterhaltung. Der US-Gigant plant Investitionen in Milliardenhöhe. Aber nicht jeder freut sich darüber.
Wie eine Naturgewalt überrollen Streamingdienste die traditionelle britische Filmindustrie. Netflix ist da erst der Anfang. Noch in diesem Herbst sollen Konkurrenzangebote von Disney und Apple auf den Markt kommen. Die britischen Fernsehsender BBC und ITV werden dann versuchen, mit der „BritBox“den US-Giganten Paroli zu bieten. „Wir sehen uns nicht in Konkurrenz mit anderen Anbietern“, sagt ITV-Chefin Carolyn McCall. „Es gibt Platz genug für mehrere Dienste.“
Das ist allerdings mehr als fraglich, denn längst laufen die Streaminganbieter den traditionellen Sendern den Rang ab und nehmen ihnen die Seher weg. Die vier populärsten TV-Kanäle in Großbritannien sind heute BBC One (durchschnittlich sieht ein Erwachsener 48 Minuten pro Tag den Sender), ITV (37 Minuten), YouTube (34 Minuten) und Netflix (17 Minuten). Während die Zahlen für die TV-Sender stark fallen, weisen sie für die Internetkanäle steil nach oben. Die Traditionskanäle BBC Two und Channel 4 liegen bereits hinter den Streamingdiensten.
Noch schlimmer für die Platzhirsche: Unter den 18- bis 34-Jährigen liegen YouTube (eine Stunde und vier Minuten) und Netflix (40 Minuten) bereits an erster Stelle. Allein im Vorjahr verzeichneten die Streamingdienste ein Plus von 25 Prozent, die Zahl der Kunden stieg von 15,6 Millionen auf 19,1 Millionen. „Großbritannien ist heute eine Nation der Streamer“, schreibt die Wettbewerbsbehörde Ofcom. 47 Prozent aller Haushalte sind bereits Kunden von Netflix, Amazon Prime, Now TV (eine britische Tochter von Sky) und anderen.
Zeit aber ist befristet, und Geld hat man nie genug. Irgendjemand wird auf der Strecke bleiben. Für die Traditionssender wird der Konkurrenzkampf eine Neuauflage von David und Goliath (vorerst noch nicht mit Russell Crowe in der Hauptrolle als siebenteilige Serie mit jeweils 13 Episoden) verfilmt: Mit knapp vier Milliarden Pfund beträgt das BBC-Jahresbudget heute weniger als ein Drittel der jährlichen Aufwendungen von Netflix nur für neue Programme.
Gegründet 1997 in Kalifornien als DVD-Verleih hat Netflix heute 150 Millionen Kunden weltweit und einen Börsenwert von 155 Milliarden Dollar. Um das rasante Wachstum fortsetzen zu können, setzt das Unternehmen zunehmend auf lokale Eigenproduktionen. In Europa sollen allein in diesem Jahr 221 Originalfilme fertig werden für ein Budget von einer Milliarde Dollar. Die Erfolgsserie „The Crown“, von der gerade die dritte Staffel gedreht wird, kostete pro Serie knapp 100 Millionen Pfund – mehr als die tatsächliche Königin im Jahr den Steuerzahler kostet, wie die BBC nicht ohne Häme vermerkte.
Während die gute alte „Auntie Beep“mit solchen Beträgen nicht mithalten kann, machen andere mit Filmaufnahmen das Geschäft ihres Lebens: „Filmstars kommen oft mit ihren eigenen Teams, und ein ausreichend großes Haus an der richtigen Location kann schon für 30.000 Pfund und mehr vermietet werden“, sagt der Immobilienmakler Stevie Walmesley.
In der Woche, versteht sich. Agenturen mit Namen wie Location Works bieten für entsprechendes Entgelt eine Komplettbetreuung. Die Bewohner der walisischen Kleinstadt Cowbridge hatten kürzlich das Vergnügen, ihren Morgenkaffee mit Lena Dunham zu bestellen. In Yorkshire laufen die Dreharbeiten für „The English Game“von „Downton Abbey“-Schöpfer Julian Fellowes. Die sechsteilige Serie erzählt die Entstehung des modernen Fußballspiels und wie aus einer Freizeitbeschäftigung der Elitejugend der Massensport der Arbeiterklasse schlechthin wurde.
Netflix arbeitet an 50 Filmen in Großbritannien und beschäftigt direkt und indirekt an die 25.000 Menschen. Zuletzt hat sich der USGigant auch das Nutzungsrecht für den Großteil der traditionsreichen Shepperton Studios im Westen Londons in einem langjährigen Pachtvertrag gesichert. Hier entstanden Klassiker von „2001: A Space Odyssey“über „Alien“, „Blade Runner“bis „Love Actually“. Experten gehen davon aus, dass Netflix bis zu 500 Millionen Pfund in die Studios stecken und mehr als 10.000 Jobs schaffen wird.
Dennoch ist die Freude über den reichen Onkel aus Amerika zurückhaltend. Die öffentlichen Sender strahlten im Vorjahr 32.000
erst 1997 gegründet, zählt bereits 150 Millionen Kunden weltweit. In Großbritannien sind bereits 47 Prozent der Haushalte Kunden von Streamingdiensten. Vor allem junge Menschen sind bevorzugt auch Netflix-Kunden. Um das rasante Wachstum fortsetzen zu können, setzt Netflix auf lokale Eigenproduktionen. In Europa sollen heuer 221 Originalfilme fertig werden. Stunden aus heimischer Produktion aus, die Streaminganbieter 221 Stunden. Viele fürchten daher um den unabhängigen britischen Film. Wer auf den Netflix-Express aufspringen kann, über den ergießt sich ein finanzielles Füllhorn.
Andere klagen, dass Netflix eine Fixsumme entrichtet, sich aber alle Rechte sichert und keine Tantiemen zahlt. Andy Paterson, Produzent von „The Railway Man“, sieht schwarz: „Es ist unendlich viel einfacher, einen Film nur für Netflix zu machen als sich aus 50 Quellen die Mittel zu sichern. Aber wir geraten in eine Situation, in der die Riesen alles niederwalzen und den unabhängigen Film zerstören.“
Während Netflix im Jahr 15 Mrd. Dollar für neue Produktionen ausgibt, kann BBC Film elf Millionen Pfund und das British Film Institute 15 Millionen vergeben. Paterson: „Im Vergleich sind das lächerliche Beträge. Der einzige Grund, warum es noch einen britischen Film gibt, ist, dass wir gut im Filmemachen sind und die Menschen unsere Filme gerne sehen.“