Der Boxer Ödipus schreibt Festspielgeschichte
Salzburger Festspiele. Achim Freyer setzt den Figuren von Enescus „OEdipe“antikisierend-fantastische Masken auf und schafft damit den stimmungsvollen Hintergrund für Christopher Maltmans grandiose Gestaltung eines Heroenschicksals.
Wer George Enescus „OEdipe“schon kannte, für den war der Erfolg dieser Festspielpremiere keine Überraschung: Das Werk gehört zu den stärksten Musiktheaterbeiträgen der frühen Moderne. Man kann es hören wie ein Kompendium sämtlicher klanglicher Möglichkeiten, die der althergebrachten Dur-Moll-Harmonik und dem spätromantischen Orchesterapparat abzutrotzen sind – und diese noch einmal neu abmischen.
Man hat die Partitur immer wieder symphonisch genannt. Tatsächlich sind es die Orchesterklänge, die das Drama in stetem Fluss vorantreiben; in all seinen grausamen Facetten wie in den jubilierend-fröhlichen, die Edmond Flegs Libretto in den tragischen Verlauf einbindet.
Da steht orientalisch gefärbte ländliche Hirtenpoesie (bei den Feierlichkeiten zu Ödipus’ Geburt) neben grässlich grimassierenden Dissonanzballungen, mit denen die Sphinx sich offenbart. Oder strahlender Jubel im (nur durch ahnungsvolle Bläserakkorde gestörten) königlichen D-Dur neben expressionistischer Melodramatik bei den Klagerufen Ödipus’, der sich selbst geblendet hat. Nach allen unausweichlichen Katastrophen findet der Vatermörder an der Hand Antigones, seiner Tochter aus der inzestuösen Verbindung zu seiner Mutter, Jokaste, im Idyll auf Kolonos seinen Seelenfrieden und geht ins Licht ein.
Bilder und Symbole als Wegweiser
Fleg hat den gesamten Bestand an mythologischen Erzählungen über seinen Titelhelden in einen biografischen Bilderbogen verwandelt und taucht das Finale des sophokleischen „Odipus auf Kolonos“sogar in christlich-metaphysisches Licht. Aus dem chthonischen Antikendrama wird jene moderne Theaterpsychologie, der Regisseur Achim Freyer stets misstraut hat.
Seine Produktion in der Felsenreitschule ist vollgepfropft mit Bildern und Symbolen, die eher als Wegweiser für den Gang der Handlung begreiflich werden, als dass sie ihn als logisch entwickelten – und zugleich verwickelten – Erzählstrang begreiflich machten.
Der Vereinzelung der Ereignisse entspricht der Rückgriff auf die antiken Masken, die viele der Personen tragen. Sie treten zu Ödipus beinahe nur als Stichwortbringer in Beziehung. Die Hauptlast des mehr als dreistündigen Abends liegt auf dem Titelhelden alias Christopher Maltman.
Der Bassbariton schreibt Festspielgeschichte. Eine solch umfassende, allen Facetten einer vielschichtigen Partie vokal wie darstellerisch genügende interpretatorische Leistung verzeichnen die Annalen nicht jeden Salzburger Sommer. Sobald das Double, das den in dieser Deutung offenbar von Geburt an fußmaroden Königssohn bei ersten verzweifelten Sprüngen und Gehversuchen zeigt, die Bühne freigegeben hat, ist Maltman Ödipus: der selbstbewusste Krieger, den die Regie als Boxkämpfer zeigt und der keinen Zweifel daran lässt, dass er zuschlägt, wenn es einer wagt, sich seinem Eroberungswillen entgegenzustellen; der zögerliche Zweifler im Angesicht göttlicher Allmacht; das herzzerreißend klagende Opfer ihrer Unerbittlichkeit; der geläuterte „unschuldig Schuldige“, wenn er an der Seite seiner Tochter ins Licht zieht.
Und nur in diesem Moment wird Achim Freyers Regiekonzept der völligen Isolierung aller optischen Prozesse fragwürdig: Chiara Skerath singt mit sattem, leuchtendem Sopran aus höchsten Höhen der Arkadenwand, Maltman steht allein auf der riesigen Bühne. In diesem Moment wird Enescus Musik zu sehr Protokoll menschlicher Nähe, als dass sie solch räumliche Distanzen überbrücken könnte. Im Übrigen erscheinen Freund und Feind in Freyers Figuren- und Lichtspielen durchaus adäquat als Zeichen. Als theatralische Skulpturen, die berichten, was die Szene nicht zeigen kann: John Tomlinson zieht als Seher Teiresias seine Kreise und verkündet seine Prophezeiungen in grandioser Fürchterlichkeit. Tilmann Rönnebeck steuert im Bassregister als Wächter am anderen Ende der vokalen Ausdrucksskala samtig-orgelnde Töne bei. Brian Mulligan als Creon´ und David Steffens als Hohepriester kommentieren aus der Arkadenhöhe mehr oder weniger kraftvoll, jedenfalls nicht so blässlich wie der Hirte von Vincent Ordonneau. Dafür gibt der ebenso hoch droben postierte Theseus (Boris Pinkhasovich) seinen Lobpreisungen der Eumeniden das rechte lyrische Kolorit.
Chor und Orchester als große Erzähler
Ungleichgewichtig auch die Damen, von der wohlklingenden Ziehmutter Anna Maria Dur über die allzu unauffällige, im entscheidenden Moment schemenhafte Jocaste Ana¨ık Morels bis zu E`ve-Maud Hubeaux, die der von allerlei fantastischem Freyer-Getier umkrochenen Sphinx mehr sinnlich-verführerische als erschreckende Qualitäten verleiht. Sämtliche Emotionen umfassen an diesem Abend die grandiosen Leistungen des Staatsopernchors (inklusive Theaterkinderchor) und der Philharmoniker unter Ingo Metzmacher. Gewiss ließe sich manches in der detailreichen Partitur rhythmisch noch prägnanter, farblich nuancierter realisieren – aber was zum Klingen kommt, erweist sich als unausgesetzt packende musikalische Erzählung von wahrlich festspielwürdigem Rang.