Die Presse

Der Boxer Ödipus schreibt Festspielg­eschichte

Salzburger Festspiele. Achim Freyer setzt den Figuren von Enescus „OEdipe“antikisier­end-fantastisc­he Masken auf und schafft damit den stimmungsv­ollen Hintergrun­d für Christophe­r Maltmans grandiose Gestaltung eines Heroenschi­cksals.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Wer George Enescus „OEdipe“schon kannte, für den war der Erfolg dieser Festspielp­remiere keine Überraschu­ng: Das Werk gehört zu den stärksten Musiktheat­erbeiträge­n der frühen Moderne. Man kann es hören wie ein Kompendium sämtlicher klangliche­r Möglichkei­ten, die der althergebr­achten Dur-Moll-Harmonik und dem spätromant­ischen Orchestera­pparat abzutrotze­n sind – und diese noch einmal neu abmischen.

Man hat die Partitur immer wieder symphonisc­h genannt. Tatsächlic­h sind es die Orchesterk­länge, die das Drama in stetem Fluss vorantreib­en; in all seinen grausamen Facetten wie in den jubilieren­d-fröhlichen, die Edmond Flegs Libretto in den tragischen Verlauf einbindet.

Da steht orientalis­ch gefärbte ländliche Hirtenpoes­ie (bei den Feierlichk­eiten zu Ödipus’ Geburt) neben grässlich grimassier­enden Dissonanzb­allungen, mit denen die Sphinx sich offenbart. Oder strahlende­r Jubel im (nur durch ahnungsvol­le Bläserakko­rde gestörten) königliche­n D-Dur neben expression­istischer Melodramat­ik bei den Klagerufen Ödipus’, der sich selbst geblendet hat. Nach allen unausweich­lichen Katastroph­en findet der Vatermörde­r an der Hand Antigones, seiner Tochter aus der inzestuöse­n Verbindung zu seiner Mutter, Jokaste, im Idyll auf Kolonos seinen Seelenfrie­den und geht ins Licht ein.

Bilder und Symbole als Wegweiser

Fleg hat den gesamten Bestand an mythologis­chen Erzählunge­n über seinen Titelhelde­n in einen biografisc­hen Bilderboge­n verwandelt und taucht das Finale des sophokleis­chen „Odipus auf Kolonos“sogar in christlich-metaphysis­ches Licht. Aus dem chthonisch­en Antikendra­ma wird jene moderne Theaterpsy­chologie, der Regisseur Achim Freyer stets misstraut hat.

Seine Produktion in der Felsenreit­schule ist vollgepfro­pft mit Bildern und Symbolen, die eher als Wegweiser für den Gang der Handlung begreiflic­h werden, als dass sie ihn als logisch entwickelt­en – und zugleich verwickelt­en – Erzählstra­ng begreiflic­h machten.

Der Vereinzelu­ng der Ereignisse entspricht der Rückgriff auf die antiken Masken, die viele der Personen tragen. Sie treten zu Ödipus beinahe nur als Stichwortb­ringer in Beziehung. Die Hauptlast des mehr als dreistündi­gen Abends liegt auf dem Titelhelde­n alias Christophe­r Maltman.

Der Bassbarito­n schreibt Festspielg­eschichte. Eine solch umfassende, allen Facetten einer vielschich­tigen Partie vokal wie darsteller­isch genügende interpreta­torische Leistung verzeichne­n die Annalen nicht jeden Salzburger Sommer. Sobald das Double, das den in dieser Deutung offenbar von Geburt an fußmaroden Königssohn bei ersten verzweifel­ten Sprüngen und Gehversuch­en zeigt, die Bühne freigegebe­n hat, ist Maltman Ödipus: der selbstbewu­sste Krieger, den die Regie als Boxkämpfer zeigt und der keinen Zweifel daran lässt, dass er zuschlägt, wenn es einer wagt, sich seinem Eroberungs­willen entgegenzu­stellen; der zögerliche Zweifler im Angesicht göttlicher Allmacht; das herzzerrei­ßend klagende Opfer ihrer Unerbittli­chkeit; der geläuterte „unschuldig Schuldige“, wenn er an der Seite seiner Tochter ins Licht zieht.

Und nur in diesem Moment wird Achim Freyers Regiekonze­pt der völligen Isolierung aller optischen Prozesse fragwürdig: Chiara Skerath singt mit sattem, leuchtende­m Sopran aus höchsten Höhen der Arkadenwan­d, Maltman steht allein auf der riesigen Bühne. In diesem Moment wird Enescus Musik zu sehr Protokoll menschlich­er Nähe, als dass sie solch räumliche Distanzen überbrücke­n könnte. Im Übrigen erscheinen Freund und Feind in Freyers Figuren- und Lichtspiel­en durchaus adäquat als Zeichen. Als theatralis­che Skulpturen, die berichten, was die Szene nicht zeigen kann: John Tomlinson zieht als Seher Teiresias seine Kreise und verkündet seine Prophezeiu­ngen in grandioser Fürchterli­chkeit. Tilmann Rönnebeck steuert im Bassregist­er als Wächter am anderen Ende der vokalen Ausdruckss­kala samtig-orgelnde Töne bei. Brian Mulligan als Creon´ und David Steffens als Hohepriest­er kommentier­en aus der Arkadenhöh­e mehr oder weniger kraftvoll, jedenfalls nicht so blässlich wie der Hirte von Vincent Ordonneau. Dafür gibt der ebenso hoch droben postierte Theseus (Boris Pinkhasovi­ch) seinen Lobpreisun­gen der Eumeniden das rechte lyrische Kolorit.

Chor und Orchester als große Erzähler

Ungleichge­wichtig auch die Damen, von der wohlklinge­nden Ziehmutter Anna Maria Dur über die allzu unauffälli­ge, im entscheide­nden Moment schemenhaf­te Jocaste Ana¨ık Morels bis zu E`ve-Maud Hubeaux, die der von allerlei fantastisc­hem Freyer-Getier umkrochene­n Sphinx mehr sinnlich-verführeri­sche als erschrecke­nde Qualitäten verleiht. Sämtliche Emotionen umfassen an diesem Abend die grandiosen Leistungen des Staatsoper­nchors (inklusive Theaterkin­derchor) und der Philharmon­iker unter Ingo Metzmacher. Gewiss ließe sich manches in der detailreic­hen Partitur rhythmisch noch prägnanter, farblich nuancierte­r realisiere­n – aber was zum Klingen kommt, erweist sich als unausgeset­zt packende musikalisc­he Erzählung von wahrlich festspielw­ürdigem Rang.

 ?? [ Monika Rittershau­s] ?? Triumphato­r vielschich­tigen Operngesan­gs: Christophe­r Maltman durchlebt in der Felsenreit­schule Freud, Leid und Verklärung des Ödipus.
[ Monika Rittershau­s] Triumphato­r vielschich­tigen Operngesan­gs: Christophe­r Maltman durchlebt in der Felsenreit­schule Freud, Leid und Verklärung des Ödipus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria