Wie die Muslime prüde wurden
Islam. Das Buch „Liebe, Sex und Allah“schildert die lange Tradition sexueller Freizügigkeit in der muslimischen Welt. Und zeigt dabei auch, wie der Kolonialismus und seine viktorianische Moral zur heutigen Rigidität beitrugen.
ber 400 arabische Wörter listet der ägyptische Gelehrte as-Suyut¯ı im 15. Jahrhundert für den Geschlechtsverkehr auf. Dass die sexuelle Lust in der muslimischen Tradition nicht verteufelt wurde, sondern in einem bestimmten Rahmen vielmehr als gottgefällig galt, ist kein Geheimnis. Dennoch beherrschen heute rigide Vorschriften muslimischer Konservativer und Islamisten die Diskussion.
Wer über die Vorgeschichte bündig und unaufgeregt informiert sein will, hat nun das passende Buch dazu, geschrieben von dem islamischen Theologen Ali Ghandour, Wissenschaftler am Graduiertenkolleg der Universität Münster. Er forscht über Erotik und Sex aus Sicht der muslimischen Gelehrten, soeben ist im Beck Verlag sein Buch „Liebe, Sex und Allah“erschienen.
Es ist vor allem eine Geschichte städtischen Lebens, von dort stammen die vorhandenen Textzeugnisse, wie Chroniken, Gedichte, juristische Register. Auch sonst muss man mit den Texten vorsichtig sein, die geschriebene Theorie sagte nicht unbedingt viel über die Praxis aus. Verbote von Prostitution, Wein oder Homosexualität wurden oft ignoriert, mehr noch, so der Autor: „Dieses Ignorieren wurde selbst so ignoriert, dass daraus eine gesellschaftliche Akzeptanz wurde.“
Freiheit in früheren Jahrhunderten kam nicht unbedingt von lockeren Vorschriften, betont Ghandour. „Das Besondere war die Existenz mehrerer Meinungen, die in den meisten Fällen toleriert wurden. Zudem waren die Richter oder Statthalter, die für die öffentliche Ordnung zuständig waren, nicht daran interessiert, die Bevölkerung zu erziehen oder in eine bestimmte Richtung zu lenken.“Erst im 19. Jahrhundert, nach der Entstehung der modernen Nationalstaaten, wurden „aus der hochambigen muslimischen Normenlehre eindeutige Vorschriften gemacht, indem eine Rechtsposition unter vielen favorisiert und zum einzig geltenden Gesetz erhoben wurde.“
Viel gestritten wird heute über die Tradition der Mut’a, der außerehelichen Genussbeziehung, die für eine begrenzte Zeit geschlossen wird. Zumindest im frühen Islam stand sie auch der Frau zu. Mohammed erlaubte sie, darüber sind sich die Gelehrten einig – aber uneins, ob er sie später verbot oder nicht. Gegen Letzteres spricht laut Ghandour, dass viele Gefährten des Propheten sie nach dessen Tod weiter praktizierten.
Beziehungen zwischen Männern waren zwischen dem 8. und 19. Jahrhundert „weit verbreitet und häufig sogar eine Normalität“– hier wirkte zwischen Persien und Andalusien stark die antike Tradition der Knabenliebe weiter. Nur ein „Randdiskurs“sei hier die Verdammung der Homosexualität in juristischen Diskussionen gewesen. Geschichten über gleichgeschlechtliche Beziehungen sind von Kalifen und Wesiren, Dichtern, hohen Militärbeamten oder Kaufleuten überliefert. Auch die Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“erzählen einiges darüber, vor allem aber die ghazal-Liebesdichtung. Sie blühte unter dem Kalifat der Abbasiden, die bis ins 13. Jahrhundert die muslimische Welt dominierten. Später finden sich sogar rechtsgelehrte Autoren homoerotischer Gedichte. Unter den Mamluken in Ägypten (ab dem 13. Jahrhundert) waren gleichgeschlechtliche Beziehungen unter den Beamten und beim Militär geradezu institutionalisiert. Und während heute Muslime „den Westen“als Reich der Homosexuellen verdammen, war es früher umgekehrt: Westliche Autoren beschrieben den „Mohammedaner“nicht zuletzt deswegen als lüstern.
Eben dieser Ruf der sexuellen Freiheit lockte denn auch im 19. Jahrhundert Künstler aus sexuell bereits sehr reglementierten europäischen Gesellschaften in den „Orient“. Muslimische Eliten in kolonialisierten Ländern wiederum übernahmen europäische, speziell die rigiden viktorianischen Vorstellungen von angemessenem und beschämendem Sexualverhalten. Und auch den Gegensatz von natürlicher und widernatürlicher Sexualität. Begriffe wie Degeneration, Dekadenz oder Abnormalität, schreibt Ghandour, seien im Arabischen Neologismen.
Mit solchen einst importierten Kategorien – mit denen früher der Westen die Muslime moralisch kritisierte! – wurde nun (und wird bis heute) in islamistischen Schriften die westliche Sexualität oder Sexualität allgemein bewertet. Dazu kam die Entstehung autoritärer muslimischer Nationalstaaten – und damit die strengere staatliche Kontrolle auch des Sexuellen. Vollends verhängnisvoll wurde die Verbindung dieser zwei Tendenzen – autoritäre staatliche Kontrolle und rigide Sexualmoral – seit der Re-Islamisierung in den 1970er-Jahren.
Ghandour geht es mit seinem Buch, wie vielen liberalen islamischen Theologen heute, auch darum, an die vielen Jahrhunderte der Vielfalt davor zu erinnern: „Zu verstehen, dass, genauso wie früher, verschiedene, sogar widersprüchliche Positionen nebeneinander existieren können“, schreibt er, „hat eine enorme emanzipatorische und aufklärerische Kraft.“