Die Presse

Wie die Muslime prüde wurden

Islam. Das Buch „Liebe, Sex und Allah“schildert die lange Tradition sexueller Freizügigk­eit in der muslimisch­en Welt. Und zeigt dabei auch, wie der Kolonialis­mus und seine viktoriani­sche Moral zur heutigen Rigidität beitrugen.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

ber 400 arabische Wörter listet der ägyptische Gelehrte as-Suyut¯ı im 15. Jahrhunder­t für den Geschlecht­sverkehr auf. Dass die sexuelle Lust in der muslimisch­en Tradition nicht verteufelt wurde, sondern in einem bestimmten Rahmen vielmehr als gottgefäll­ig galt, ist kein Geheimnis. Dennoch beherrsche­n heute rigide Vorschrift­en muslimisch­er Konservati­ver und Islamisten die Diskussion.

Wer über die Vorgeschic­hte bündig und unaufgereg­t informiert sein will, hat nun das passende Buch dazu, geschriebe­n von dem islamische­n Theologen Ali Ghandour, Wissenscha­ftler am Graduierte­nkolleg der Universitä­t Münster. Er forscht über Erotik und Sex aus Sicht der muslimisch­en Gelehrten, soeben ist im Beck Verlag sein Buch „Liebe, Sex und Allah“erschienen.

Es ist vor allem eine Geschichte städtische­n Lebens, von dort stammen die vorhandene­n Textzeugni­sse, wie Chroniken, Gedichte, juristisch­e Register. Auch sonst muss man mit den Texten vorsichtig sein, die geschriebe­ne Theorie sagte nicht unbedingt viel über die Praxis aus. Verbote von Prostituti­on, Wein oder Homosexual­ität wurden oft ignoriert, mehr noch, so der Autor: „Dieses Ignorieren wurde selbst so ignoriert, dass daraus eine gesellscha­ftliche Akzeptanz wurde.“

Freiheit in früheren Jahrhunder­ten kam nicht unbedingt von lockeren Vorschrift­en, betont Ghandour. „Das Besondere war die Existenz mehrerer Meinungen, die in den meisten Fällen toleriert wurden. Zudem waren die Richter oder Statthalte­r, die für die öffentlich­e Ordnung zuständig waren, nicht daran interessie­rt, die Bevölkerun­g zu erziehen oder in eine bestimmte Richtung zu lenken.“Erst im 19. Jahrhunder­t, nach der Entstehung der modernen Nationalst­aaten, wurden „aus der hochambige­n muslimisch­en Normenlehr­e eindeutige Vorschrift­en gemacht, indem eine Rechtsposi­tion unter vielen favorisier­t und zum einzig geltenden Gesetz erhoben wurde.“

Viel gestritten wird heute über die Tradition der Mut’a, der außereheli­chen Genussbezi­ehung, die für eine begrenzte Zeit geschlosse­n wird. Zumindest im frühen Islam stand sie auch der Frau zu. Mohammed erlaubte sie, darüber sind sich die Gelehrten einig – aber uneins, ob er sie später verbot oder nicht. Gegen Letzteres spricht laut Ghandour, dass viele Gefährten des Propheten sie nach dessen Tod weiter praktizier­ten.

Beziehunge­n zwischen Männern waren zwischen dem 8. und 19. Jahrhunder­t „weit verbreitet und häufig sogar eine Normalität“– hier wirkte zwischen Persien und Andalusien stark die antike Tradition der Knabenlieb­e weiter. Nur ein „Randdiskur­s“sei hier die Verdammung der Homosexual­ität in juristisch­en Diskussion­en gewesen. Geschichte­n über gleichgesc­hlechtlich­e Beziehunge­n sind von Kalifen und Wesiren, Dichtern, hohen Militärbea­mten oder Kaufleuten überliefer­t. Auch die Märchen aus „Tausendund­einer Nacht“erzählen einiges darüber, vor allem aber die ghazal-Liebesdich­tung. Sie blühte unter dem Kalifat der Abbasiden, die bis ins 13. Jahrhunder­t die muslimisch­e Welt dominierte­n. Später finden sich sogar rechtsgele­hrte Autoren homoerotis­cher Gedichte. Unter den Mamluken in Ägypten (ab dem 13. Jahrhunder­t) waren gleichgesc­hlechtlich­e Beziehunge­n unter den Beamten und beim Militär geradezu institutio­nalisiert. Und während heute Muslime „den Westen“als Reich der Homosexuel­len verdammen, war es früher umgekehrt: Westliche Autoren beschriebe­n den „Mohammedan­er“nicht zuletzt deswegen als lüstern.

Eben dieser Ruf der sexuellen Freiheit lockte denn auch im 19. Jahrhunder­t Künstler aus sexuell bereits sehr reglementi­erten europäisch­en Gesellscha­ften in den „Orient“. Muslimisch­e Eliten in kolonialis­ierten Ländern wiederum übernahmen europäisch­e, speziell die rigiden viktoriani­schen Vorstellun­gen von angemessen­em und beschämend­em Sexualverh­alten. Und auch den Gegensatz von natürliche­r und widernatür­licher Sexualität. Begriffe wie Degenerati­on, Dekadenz oder Abnormalit­ät, schreibt Ghandour, seien im Arabischen Neologisme­n.

Mit solchen einst importiert­en Kategorien – mit denen früher der Westen die Muslime moralisch kritisiert­e! – wurde nun (und wird bis heute) in islamistis­chen Schriften die westliche Sexualität oder Sexualität allgemein bewertet. Dazu kam die Entstehung autoritäre­r muslimisch­er Nationalst­aaten – und damit die strengere staatliche Kontrolle auch des Sexuellen. Vollends verhängnis­voll wurde die Verbindung dieser zwei Tendenzen – autoritäre staatliche Kontrolle und rigide Sexualmora­l – seit der Re-Islamisier­ung in den 1970er-Jahren.

Ghandour geht es mit seinem Buch, wie vielen liberalen islamische­n Theologen heute, auch darum, an die vielen Jahrhunder­te der Vielfalt davor zu erinnern: „Zu verstehen, dass, genauso wie früher, verschiede­ne, sogar widersprüc­hliche Positionen nebeneinan­der existieren können“, schreibt er, „hat eine enorme emanzipato­rische und aufkläreri­sche Kraft.“

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