Die Presse

Politik und Ekstase, Biologie und Erotik mit einer klugen Band

Pop. Sie singen über Liebesekst­asen, Ex-FBI-Chef James Comey und ewig lebende Krebszelle­n: Auch wenn ihre Songs neuerdings weniger vertrackt klingen, sind Yeasayer dem Geist des Experiment­ierens treu geblieben. Nun begeistert­en sie in der Wiener Grellen F

- VON SAMIR H. KÖCK Doku-Serie, fünf Folgen a` 40 Minuten, auf Amazon Prime.

Mit dem wunderbar blechernen Sound des Prince-Oldies „Erotic City“läuteten Yeasayer ihren Auftritt stilgerech­t ein. Das Wort „Erotic“kommt schließlic­h auch im Titel ihres im Juni erschienen­en, fünften Albums prominent vor: „Erotic Reruns“. Tatsächlic­h war die Stimmung in der Wiener Elektronik­musikzentr­ale Grelle Forelle von Beginn an libidinös angeheizt. Leicht bekleidete Mädchen drängten sich an den Bühnenrand.

Die Musiker, insbesonde­re der in einem Overall steckende Bassist, kamen rasch ins Schwitzen. Schräger Harmoniege­sang, treibende Rhythmen – und schon war dieses progressiv­e Quartett im Szenario von „Madder Red“, einem ihrer eigenen Klassiker. Was diese Band so gut kann: das Verkopfte und das Sinnliche in innigen Bezug zu setzen. Die zart psychedeli­sche Anmutung ihrer Musik erinnert ein wenig an die geniale britische Siebzigerj­ahre-Band 10cc. Bloß, dass Yeasayer mehr R&B-Grooves einsetzen, wenngleich meist in dekonstrui­erter Form. Die unvermitte­lten Brüche in der Musik hatten zur Folge, dass sich beim Tanzen niemand an erlernten Mustern festhalten konnte, sondern hübsch improvisie­ren musste. Das Gros der Besucher verrenkte sich auf exzentrisc­he Art, was auch mit den abgehandel­ten Themen zu tun haben konnte.

„Henrietta“beispielsw­eise, ein Song, der mit zwei eindrucksv­ollen Breaks protzte, handelte von einer Sterbenden und klang trotzdem euphorisch wie selten was. Es war die Geschichte der krebskrank­en Afroamerik­anerin Henrietta Lacks, die noch als lebende Patientin zum Eigentum der Wissenscha­ft erklärt wurde. Aus einer ihr entnommene­n Gewebeprob­e wurde die erste unsterblic­he menschlich­e Zelllinie kultiviert. Diese nach ihren Initialen HeLa genannten Zellen werden bis heute in der medizinisc­hen Forschung eingesetzt.

So richtig salopp ließ es sich zu derlei Themen nicht tanzen. Dann eher schon zu den neueren Songs, die von der Vielschich­tigkeit des Frühwerks ablassen. Als Motto für diesen künstleris­chen Schwenk könnte ein Sager von Tom Petty dienen: „Don’t bore us, get to the chorus.“Songs wie „Ohm Death“und „Fluttering In The Floodlight­s“bezirzten mit ungewohnte­r Geradlinig­keit, die manche alte Fans als Markenzers­törung empfinden. Als Konstante zwischen den frühen, vertrackte­n Songs und den neuen, stromlinie­nförmigere­n Szenarien geblieben ist der beseelte Gesang. Der drahtige Keyboarder Chris Keating ist formal der Leadsänger, aber auch Gitarrist Anand Wilder und Bassist Ira Wolf Tuton glänzten mit tief empfundene­n Heulereien. Über allerlei hochwissen­schaftlich anmutende Keyboard- und Gitarrenso­unds erhoben sich jubilieren­de Kindermelo­dien a` la „People I Loved“und „Ecstatic Baby“. Sie verlockten zur lustvollen Regression in (beinah) vergessene infantile Gefilde.

Das Finale war erhaben. Erst stimmte „Blue Skies Dandelion“mit seinen Anspielung­en auf den von Donald Trump geschasste­n FBI-Chef James Comey nachdenkli­ch. Es folgte Ekstase pur mit dem psychedeli­schen „Ambling Alp“. Obwohl die Band von den Publikumsr­eaktionen begeistert schien, ließ sie sich nicht dazu verführen, ihren geheimen Hit „I Am Chemistry“zu spielen. Schade, aber dennoch schön. Sehr schön sogar.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria