Justiz geht auf Distanz zu Erdo˘gan
Türkei. Die jüngsten Urteile des Verfassungsgerichtshofs gefallen der Regierung nicht. Die Richter rebellieren zwar nicht, sie emanzipieren sich von der herrschenden AKP.
„Die Skandale von Zühtü Arslan nehmen kein Ende!“– eine Schlagzeile wie eine laute Mahnung mit erhobenem Zeigefinger. Mit diesen Worten zählte jüngst die regierungstreue türkische Tageszeitung „Sabah“die „Vergehen“des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs auf. Nicht nur hat Arslan mit Murat Sen¸ einen Richter in das Generalsekretariat des Verfassungsgerichts geholt, der sich in einem Gutachten für die Freilassung Can Dündars ausgesprochen hatte (den regierungskritischen Journalisten Dündar nennt „Sabah“einen „Vaterlandsverräter“). Der oberste Richter hat auch die international viel kritisierte Verurteilung jener Akademiker aufgehoben, die sich mit einer Petition für Frieden in den Kurdengebieten ausgesprochen hatten. Es war eine äußerst knappe Entscheidung, von 17 Richtern waren acht dafür, acht dagegen. Arslans Stimme entschied. Das war eine Überraschung.
Spätestens seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 haben sich große Teile der türkischen Justiz den Vorwurf der Willfährigkeit eingehandelt. Der Einfluss der Regierungspartei AKP auf juristische Entscheidungen – ob nun vor oder nach dem Urteilsspruch – war bisweilen so offensichtlich, dass der Prozess selbst nur mehr eine Formsache zu sein schien. Von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ abwärts kommentierten AKP-Politiker die Arbeit der Gerichte, ja noch viel mehr, sie gaben bisweilen an, unliebsame Urteile nicht akzeptieren zu wollen. Doch dieses Image der Justiz gerät neuerdings ins Wanken.
Das Akademiker-Urteil sorgt für viel Aufmerksamkeit. Regierungstreue Medien werfen Arslan gar vor, dass mit diesem Urteil die verbotene PKK ungeniert unterstützt werden könne. Wohlgemerkt hatten sich die Akademiker, die die Petition unterschrieben haben, nicht für die PKK, sondern gegen eine Militärintervention im krisengeschüttelten Südosten des Landes ausgesprochen. Hunderte von ihnen verloren nach der Unterschrift ihre Stelle oder kamen in U-Haft. Vorwurf: Terrorpropaganda. Zehn von ihnen gingen in Berufung, bekamen recht und sogar eine Entschädigung zugesprochen. Das Akademiker-Urteil kam nur wenige Tage nach dem Freispruch dreier Journalisten bzw. Schriftsteller, die an einer Solidaritätskampagne teilgenommen hatten: Erol Önderoglu,˘ Vertreter von Reporter ohne Grenzen in der Türkei, sprang mit zwei weiteren Freiwilligen als Blattmacher für die prokurdische Zeitung „Özgür Gündem“ein, als mehrere ihrer Reporter festgenommen wurden. Dafür wurde Önderoglu˘ Terrorunterstützung vorgeworfen; über seinen nunmehrigen Freispruch zeigte er sich selbst überrascht.
Auffällig ist auch, dass aufsehenerregende Prozesse immer wieder verschoben werden, das betrifft etwa den ehemaligen Korrespondenten der deutschen „Welt“, Deniz Yücel. Die türkische Justiz – und freilich auch Erdogan˘ selbst, wie er mehrmals betonte – wirft Yücel Terrorpropaganda vor. Während sich das Verfahren gegen ihn in die Länge zieht, hat im Juni der Verfassungsgerichtshof Yücels ein Jahr dauernde U-Haft für unrechtmäßig befunden; sie hätte die Grundrechte des Journalisten verletzt. Etwas chaotisch fiel indessen die Anordnung eines türkischen Gerichts aus, das viel frequentierte regierungskritische Onlineportal Bianet zu sperren. Ein öffentlicher Aufschrei war die Folge, und etwas später folgte der Widerruf – wiewohl Hunderte andere Seiten und Medienhäuser gesperrt bleiben.
Es ist noch gar nicht lange her, da haben sich kleinere Gerichte den (der Regierung nicht genehmen) Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs offen widersetzt. Man kann davon ausgehen, dass Regierungsvertreter weiterhin Einfluss auf die Justiz ausüben werden. Doch die AKP schwächelt und verliert somit allmählich ihr Standing in vielen Institutionen; erst bei der heurigen Kommunalwahl straften viele wichtige Städte die Partei ab. In einer offenen Rebellion befindet sich die türkische Justiz zwar nicht; aber sie sucht ihre Unabhängigkeit.