Über die Kunst, fast nichts zu malen
Ausstellung. Das Werk William Turners ist auf dem Kontinent nur sehr selten zu erleben. In Luzern, wo er oft zu Gast war, bietet sich jetzt eine Gelegenheit: „Das Meer und die Alpen“zeigt den Künstler als Grundlagenforscher.
Der Beobachtungsfanatiker William Turner war permanent im Betriebsmodus. So kam es, dass sein Nachlass etwa 30.000 Arbeiten auf Papier, 300 Ölgemälde und 280 Skizzenbücher umfasst – ein Herzstück der Tate Britain. Dort weiß man, wie süchtig speziell Turners späte Aquarelle machen können, also verleiht man diese mit größtmöglicher Sorgfalt. So bekommt man auf dem Kontinent nur selten Soloshows zu Gesicht. Und wenn, werden nicht „Greatest Hits“angepriesen, sondern Turners über sechzig Jahre entstandenes Werk mit thematischem Fokus ausgestellt. 2012 war in Stockholm und Stuttgart das Spätwerk zu sehen, wobei der 1851 Verstorbene in Konfrontation mit Cy Twombly präsentiert wurde, einem Poeten der Reduktion des späten 20. Jahrhunderts. Man zeigte Turner, wie schon 2007 in der Frankfurter Schirn, unter dem Titel „Entdeckung der Abstraktion“einmal mehr als Vormodernen. In Hamburg konzentrierte man sich 2015 auf den „Maler der Elemente“.
Für Luzern, das mit Turner heuer neben dem Musikfestival im berühmten NouvelBau am Seeufer einen zweiten Sommerhöhepunkt bieten kann, wurde unter Mitwirkung von Tate-Experten die Schau „Das Meer und die Alpen“erarbeitet. Anlass ist das 200-Jahr-Jubiläum des örtlichen Kunstvereins und die Tatsache, dass sich der Maler hier immer wieder aufgehalten hat. Allein zwischen 1839 und 1844 kam Turner in seiner Spätphase, in der er rastlos in neue Sphären vorstieß, fünf Mal an den Vierwaldstättersee, um Bergformen sowie Licht-, Farb- und Wetterphänomene zu studieren.
Aufwertung der Landschaftsmalerei
Gleich die Ouverture überwältigt und destabilisiert den Betrachter, der nicht so recht weiß, ob er sich aus größerer Distanz auf einen leicht atonalen Gesamtklang einlassen oder sich in schemenhaften Mikrostrukturen verlieren soll. Das zwischen diffusen, weißlich-gelblichen Farbtönen oszillierende späte Ölgemälde „Sonnenuntergang über einem See“führt vor, dass sich Turner, ein Kämpfer für die Aufwertung der Landschaftsmalerei, nicht als exakter Topograf verstand, sondern dass es ihm um Atmosphäre ging – mit verschwimmenden Konturen und zum Teil völliger Absenz konkreter Orientierungspunkte. Klar, die Sonne ist dort, wo sich Gelb, Rot und Orange zu einem gleißenden Farbwirbel mischen. Aber der Großteil der Bildfläche besteht aus Zwischentönen und Leerstellen mit scheinbar frei gesetzten Farbsprenkeln. Der Schriftsteller Cees Nooteblom fragt in seinem Katalogbeitrag: „Wie lange dauert es, bis es einem gelingt, fast nichts zu malen?“
Die Ausstellung zeigt in kluger Balance Ölbilder, neben wenig bekannten auch Triple-A-Werke wie „Schneesturm“mit einem kaum erkennbaren Dampfer in einer Hafeneinfahrt oder „Sonnenaufgang mit Meermonstern“, in Kombination mit Serien fertiger, teilfertiger und notizenhafter Aquarelle. Dabei stellt sich als überraschender Effekt ein, dass zwischen den Gattungen weniger Unterschiede bestehen als durch die Rezeption Turners als Ausnahme-Wasserfarbenmaler vermutet.
Der in Öl gepinselte Sonnenuntergang am nur zu erahnenden See verdankt seine Wirkung auch einer radikalisierten Aquarelltechnik. Deren schlierige, durchscheinende Eigenschaft übertrug Turner auf seine großen Gemälde, um so die Motive verfließen zu lassen. In einem Vortrag an der Royal Academy bekannte er sich zur Undeutlichkeit. Das betraf seine Schiffskatastrophen ebenso wie jene Bilder, die uns heute abstrakt vorkommen und in die Kategorie „Malerei als Malerei“zu passen scheinen.
Der Ausstellung liegt eine Warnung zugrunde, die im Katalog wissenschaftlich argumentiert wird. Es sei „doch eher oberflächlich“, in Turner einen Vorläufer der Abstraktion zu sehen. Anders als bei dieser sei die formale Auflösung weder konzeptionell noch theoretisch begründet. Sie ergibt sich aus dem Versuch, Licht- oder Lufteffekte wirklichkeitsgetreu darzustellen. Turners Vorgehen hatte nichts Zufälliges oder Unbewusstes. Bei aller romantischen Prägung war er ein Grundlagenforscher natürlicher Phänomene, zu denen für den Fortschrittsfreund allerdings auch der Rauch von Dampfschiffen oder Lokomotiven zählte.
Rasch wechselnde Wetterlagen
Ein Bonus der Schau ist das mit Lokalstolz zelebrierte wertvolle „Luzerner Skizzenbuch“. Im Lauf der Jahre entstand rund um den Vierwaldstättersee, zum Teil vom Schiff aus, eine riesige Menge von Zeichnungen und Aquarellen. Im damals neuen Hotel Schwanen ist jenes Zimmer zugänglich, von dessen Fenster aus der Maler immer wieder den Aussichtsberg Rigi zu erfassen suchte. Dessen Umriss und die Weite des Sees waren vorgegeben, die Farbtönungen wechselten je nach Tageszeit und Lichtverhältnissen. Eines der schönsten Blätter, entstanden am frühen Morgen, zeigt die Rigi in Blau.
Man sollte sich Turner nicht als Eigenbrötler vorstellen. Auch seine Reiseroute entsprach dem Circuit der frühen Touristen. An den Alpen interessierte den Maler, der den alten Meistern noch nahe war und sich doch weiter vorwagte als seine Zeitgenossen, nicht nur deren Erhabenheit, sondern vor allem die schnell wechselnden Kleinwetterlagen, die sich wie in einem Labor beobachten ließen. Fanni Fetzer, Direktorin des Kunsthauses Luzern und Mitkuratorin, hat sogar Meteorologen befragt und erfahren, wie präzise Turners mit leichter Hand aquarellierte Momentaufnahmen sind. Ruhige See, knapp bevor der Sturm loslegt. Nebel, der sich mit Dunst vermischt und die Bergformen einige Minuten später zum Verschwinden bringen lassen. Tiefdrucklagen, die kein Grün mehr zulassen. Bewegungsenergie als künstlerische Herausforderung.