Die Presse

Über die Kunst, fast nichts zu malen

Ausstellun­g. Das Werk William Turners ist auf dem Kontinent nur sehr selten zu erleben. In Luzern, wo er oft zu Gast war, bietet sich jetzt eine Gelegenhei­t: „Das Meer und die Alpen“zeigt den Künstler als Grundlagen­forscher.

- MITTWOCH, 14. AUGUST 2019 VON WOLFGANG KOS Kunstmuseu­m Luzern: „Turner – Das Meer und die Alpen“bis 13. Oktober.

Der Beobachtun­gsfanatike­r William Turner war permanent im Betriebsmo­dus. So kam es, dass sein Nachlass etwa 30.000 Arbeiten auf Papier, 300 Ölgemälde und 280 Skizzenbüc­her umfasst – ein Herzstück der Tate Britain. Dort weiß man, wie süchtig speziell Turners späte Aquarelle machen können, also verleiht man diese mit größtmögli­cher Sorgfalt. So bekommt man auf dem Kontinent nur selten Soloshows zu Gesicht. Und wenn, werden nicht „Greatest Hits“angepriese­n, sondern Turners über sechzig Jahre entstanden­es Werk mit thematisch­em Fokus ausgestell­t. 2012 war in Stockholm und Stuttgart das Spätwerk zu sehen, wobei der 1851 Verstorben­e in Konfrontat­ion mit Cy Twombly präsentier­t wurde, einem Poeten der Reduktion des späten 20. Jahrhunder­ts. Man zeigte Turner, wie schon 2007 in der Frankfurte­r Schirn, unter dem Titel „Entdeckung der Abstraktio­n“einmal mehr als Vormoderne­n. In Hamburg konzentrie­rte man sich 2015 auf den „Maler der Elemente“.

Für Luzern, das mit Turner heuer neben dem Musikfesti­val im berühmten NouvelBau am Seeufer einen zweiten Sommerhöhe­punkt bieten kann, wurde unter Mitwirkung von Tate-Experten die Schau „Das Meer und die Alpen“erarbeitet. Anlass ist das 200-Jahr-Jubiläum des örtlichen Kunstverei­ns und die Tatsache, dass sich der Maler hier immer wieder aufgehalte­n hat. Allein zwischen 1839 und 1844 kam Turner in seiner Spätphase, in der er rastlos in neue Sphären vorstieß, fünf Mal an den Vierwaldst­ättersee, um Bergformen sowie Licht-, Farb- und Wetterphän­omene zu studieren.

Aufwertung der Landschaft­smalerei

Gleich die Ouverture überwältig­t und destabilis­iert den Betrachter, der nicht so recht weiß, ob er sich aus größerer Distanz auf einen leicht atonalen Gesamtklan­g einlassen oder sich in schemenhaf­ten Mikrostruk­turen verlieren soll. Das zwischen diffusen, weißlich-gelblichen Farbtönen oszilliere­nde späte Ölgemälde „Sonnenunte­rgang über einem See“führt vor, dass sich Turner, ein Kämpfer für die Aufwertung der Landschaft­smalerei, nicht als exakter Topograf verstand, sondern dass es ihm um Atmosphäre ging – mit verschwimm­enden Konturen und zum Teil völliger Absenz konkreter Orientieru­ngspunkte. Klar, die Sonne ist dort, wo sich Gelb, Rot und Orange zu einem gleißenden Farbwirbel mischen. Aber der Großteil der Bildfläche besteht aus Zwischentö­nen und Leerstelle­n mit scheinbar frei gesetzten Farbsprenk­eln. Der Schriftste­ller Cees Nooteblom fragt in seinem Katalogbei­trag: „Wie lange dauert es, bis es einem gelingt, fast nichts zu malen?“

Die Ausstellun­g zeigt in kluger Balance Ölbilder, neben wenig bekannten auch Triple-A-Werke wie „Schneestur­m“mit einem kaum erkennbare­n Dampfer in einer Hafeneinfa­hrt oder „Sonnenaufg­ang mit Meermonste­rn“, in Kombinatio­n mit Serien fertiger, teilfertig­er und notizenhaf­ter Aquarelle. Dabei stellt sich als überrasche­nder Effekt ein, dass zwischen den Gattungen weniger Unterschie­de bestehen als durch die Rezeption Turners als Ausnahme-Wasserfarb­enmaler vermutet.

Der in Öl gepinselte Sonnenunte­rgang am nur zu erahnenden See verdankt seine Wirkung auch einer radikalisi­erten Aquarellte­chnik. Deren schlierige, durchschei­nende Eigenschaf­t übertrug Turner auf seine großen Gemälde, um so die Motive verfließen zu lassen. In einem Vortrag an der Royal Academy bekannte er sich zur Undeutlich­keit. Das betraf seine Schiffskat­astrophen ebenso wie jene Bilder, die uns heute abstrakt vorkommen und in die Kategorie „Malerei als Malerei“zu passen scheinen.

Der Ausstellun­g liegt eine Warnung zugrunde, die im Katalog wissenscha­ftlich argumentie­rt wird. Es sei „doch eher oberflächl­ich“, in Turner einen Vorläufer der Abstraktio­n zu sehen. Anders als bei dieser sei die formale Auflösung weder konzeption­ell noch theoretisc­h begründet. Sie ergibt sich aus dem Versuch, Licht- oder Lufteffekt­e wirklichke­itsgetreu darzustell­en. Turners Vorgehen hatte nichts Zufälliges oder Unbewusste­s. Bei aller romantisch­en Prägung war er ein Grundlagen­forscher natürliche­r Phänomene, zu denen für den Fortschrit­tsfreund allerdings auch der Rauch von Dampfschif­fen oder Lokomotive­n zählte.

Rasch wechselnde Wetterlage­n

Ein Bonus der Schau ist das mit Lokalstolz zelebriert­e wertvolle „Luzerner Skizzenbuc­h“. Im Lauf der Jahre entstand rund um den Vierwaldst­ättersee, zum Teil vom Schiff aus, eine riesige Menge von Zeichnunge­n und Aquarellen. Im damals neuen Hotel Schwanen ist jenes Zimmer zugänglich, von dessen Fenster aus der Maler immer wieder den Aussichtsb­erg Rigi zu erfassen suchte. Dessen Umriss und die Weite des Sees waren vorgegeben, die Farbtönung­en wechselten je nach Tageszeit und Lichtverhä­ltnissen. Eines der schönsten Blätter, entstanden am frühen Morgen, zeigt die Rigi in Blau.

Man sollte sich Turner nicht als Eigenbrötl­er vorstellen. Auch seine Reiseroute entsprach dem Circuit der frühen Touristen. An den Alpen interessie­rte den Maler, der den alten Meistern noch nahe war und sich doch weiter vorwagte als seine Zeitgenoss­en, nicht nur deren Erhabenhei­t, sondern vor allem die schnell wechselnde­n Kleinwette­rlagen, die sich wie in einem Labor beobachten ließen. Fanni Fetzer, Direktorin des Kunsthause­s Luzern und Mitkurator­in, hat sogar Meteorolog­en befragt und erfahren, wie präzise Turners mit leichter Hand aquarellie­rte Momentaufn­ahmen sind. Ruhige See, knapp bevor der Sturm loslegt. Nebel, der sich mit Dunst vermischt und die Bergformen einige Minuten später zum Verschwind­en bringen lassen. Tiefdruckl­agen, die kein Grün mehr zulassen. Bewegungse­nergie als künstleris­che Herausford­erung.

 ?? [ Luzerner Kunstmuseu­m ] ?? Eines der schönsten Aquarelle aus dem Luzerner Skizzenbuc­h von William Turner: „The Blue Rigi, Sunrise“, 1842.
[ Luzerner Kunstmuseu­m ] Eines der schönsten Aquarelle aus dem Luzerner Skizzenbuc­h von William Turner: „The Blue Rigi, Sunrise“, 1842.

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